Über die Methode der Empfängnisverhütung soll das Paar nach «ihrem christlich gebildeten Gewissen» entscheiden, heisst es im Papier der Synode 72. Foto: iStock/kali9
Keine Angst vor der Sexualität
Das eigene Gewissen als entscheidende Instanz
Was dachten Schweizer Katholik:innen 1972 über Ehe und Sexualität? Marin Tschirrren hat dies untersucht und gibt einen Einblick in die Sorgen, Nöte und Aufbrüche von damals.
von Martin Tschirren*
Die traditionelle katholische Ehe- und Sexualmoral war bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil durch die Grundsätze Nachkommenschaft, Treue und Unauflöslichkeit geprägt. Sexualität war nur innerhalb der Ehe erlaubt, und Empfängnisverhütung galt als Verstoss gegen das «Naturgesetz» und als schwere Sünde. Der gesellschaftliche Wandel und die Erfindung der Pille führten auch in Fragen rund um Ehe, Sexualität und Familie zu Veränderungen und einer Aufbruchstimmung.
An der Synode 72 zeigte sich dies bereits bei der Umfrage, welche die Bischöfe im Vorfeld bei den Kirchenmitgliedern durchgeführt hatten. Das Thema Ehe und Familie erhielt am meisten Stimmen, gefolgt von Jugend und Kirche, Glaubensschwierigkeiten, Priester, Mitverantwortung der Christ:innen in Kirche und Welt, Ökumene sowie Formen des kirchlichen Lebens und der Seelsorge.
Eindeutige Umfrageergebnisse
Auch in der Briefaktion «Lieber Herr Bischof …» gingen viele Schreiben zu diesem Thema ein. Insgesamt erhielten die Bischöfe zwischen Dezember 1969 und März 1970 rund 10 000 Briefe, allein im Bistum Basel waren es rund 4500. Gemäss Kartei im bischöflichen Archiv in Solothurn betrafen 351 Briefe Fragen der Sexualmoral, und bei zwei Dritteln ging es um die Geburtenregelung.
70 bis 80 Prozent der Gläubigen sprachen sich dafür aus, die Empfängnisverhütung und deren Methode dem Gewissen der Eheleute zu überlassen. So tauchte in einem Brief die rhetorische Frage auf: «Beraubt sich die Kirche nicht selber ihrer Autorität, wenn sie Gesetze schafft, von denen sie a priori annehmen muss, dass ein Grossteil der Gläubigen sich doch nicht an diese hält?» Ein Ehepaar aus der Zentralschweiz schrieb, «dass wir schon lange Zeit nicht mehr zur Beichte gehen und seither ein noch innigeres und beglückenderes Eheleben führen».
In weiteren Briefen berichteten Gläubige von seelischen Nöten, da sie wegen Verstössen gegen die Sexualmoral von den Sakramenten ausgeschlossen worden waren. Nur vereinzelt wurde die Verbreitung der Pille namentlich unter Ledigen beklagt.
Die aufgeworfenen Fragen wurden an der Synode unter dem Titel «Ehe und Familie im Wandel der Gesellschaft» als eines von zwölf Schwerpunktthemen behandelt. Die Sachkommission, welche die Grundlagendokumente vorbereitet hatte, bestand zu vier Fünfteln aus Laien, wies einen Frauenanteil von knapp einem Viertel auf und wurde von einer Frau präsidiert.
Die Pille soll Gewissensentscheidung des Paares sein
Die Texte, welche die Synode verabschiedete, zeichnen ein positives Bild der menschlichen Sexualität, indem sie den Menschen als geschlechtliches Wesen anerkennen. In den Empfehlungen und Entscheidungshilfen zu Familienplanung und Empfängnisverhütung hält die Synode fest, dass jedes Ehepaar zur Familienplanung verpflichtet sei; dies schliesse «sowohl die Bejahung des Kindes als Geschenk des Schöpfers als auch die Verhütung unverantwortbarer Schwangerschaften» ein. Entsprechend liege es beim Ehepaar, zu bestimmen, wie viele Kinder es haben wolle. Über die Methode der Empfängnisverhütung hätte das Paar nach «ihrem christlich gebildeten Gewissen» zu entscheiden, so die Synode weiter.
Aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, wie sich die Synode zur gleichgeschlechtlichen Liebe äusserte: «Wir dürfen uns der Tatsache nicht verschliessen, dass es Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung gibt.» Die Ursachen dafür seien nicht völlig geklärt, so die Synode weiter. Unabhängig davon hält sie fest, dass die «gesellschaftliche Ächtung der gleichgeschlechtlich geneigten Menschen» zu überwinden sei.
Ist Kirchenlehre heute noch relevant?
Die Vorlagen gaben in den Synoden zu Diskussionen Anlass, wurden aber schlussendlich mit deutlichen Resultaten verabschiedet. Auch die Bischöfe stimmten den Texten zu und bestätigten damit, dass bei Fragen rund um Ehe und Sexualität nicht mehr das Lehramt, sondern das eigene Gewissen die entscheidende Instanz darstellen solle.
Heute, 50 Jahre später, hat sich die gesellschaftlich gelebte Praxis so weit von der offiziellen Kirchenlehre weg entwickelt, dass sich die Frage stellt, wie relevant die Lehre noch ist. Die Ergebnisse aus dem Synodalen Prozess zeigen allerdings, dass Themen wie Ehe, Sexualität und Familie nach wie vor aktuell bleiben.
* Martin Tschirren, 51, hat Geschichte und Theologie in Freiburg und Nijmegen (NL) studiert. Seine Lizentiatsarbeit trug den Titel «Ehe- und Sexualmoral im Schweizer Katholizismus, 1950 bis 1975». Seit 2020 ist er Direktor des Bundesamts für Wohnungswesen. Von 2015 bis 2020 hat er sich im Kleinen Kirchenrat der Katholischen Kirche Region Bern engagiert.