Die Aufnahme von verletzten Flüchtlingen hat nichts mit Neutralität zu tun, findet Nicolas Betticher. Foto: Ruben Sprich

Keine Verwundeten aus der Ukraine aufnehmen?

21.07.2022

Der Berner Pfarrer Nicolas Betticher ist empört.

Die Schweiz will keine verletzten Soldaten aus der Ukraine aufnehmen. Das empört den Berner Pfarrer Nicolas Betticher. Es gehe nicht um Neutralität, sondern um humanitäre Hilfe und Werte. Ein Gastkommentar.

Von Nicolas Betticher*

Henri Dunant hat es uns vorgelebt. Vor ihm auch ganz viele und nicht zuletzt Jesus selbst. Als Gleichnis mag sicher «der barmherzige Samariter» gelten. Die Priester und Leviten gehen am Verletzten vorbei. Der Samariter hält an und kümmert sich um ihn.

Und wir Schweizerinnen und Schweizer? Wenn ich höre, dass wir keine verletzten Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen wollen, weil dies unserer Neutralität widerspricht, da frage ich mich, wie ein verletzter Mensch unsere Neutralität bedrohen kann? Und eine weitere Frage: wie sieht es aus mit den Milliarden, die in unserem Land «ruhen» oder mit den Waffenteilen, die bei uns produziert werden?

Ich verstehe die Argumente der Behörden: die Schweiz ist vor Ort in der Ukraine sehr aktiv und hilft wo sie kann; das Gesuch der Nato verlangt von uns, dass die Schweiz die wieder gesunden Soldaten zurück in den Krieg schickt, das gehe nicht, es würde die Neutralität der Schweiz verletzen. Diese rein juristischen Argumente kann man nachvollziehen. Man muss sie aber nicht akzeptieren.

Statt einer einfachen Absage an die Nato ist es dringend notwendig, dass der Bundesrat andere Wege sucht und der Nato einen Gegenvorschlag macht: so zum Beispiel, dass die Soldat:innen bei uns bleiben können. Übrigens: Wie kann man objektiv zwischen Bürgerinnen und Bürgern eines Landes, das im Krieg ist, unterscheiden und bestimmen, wer sich für die Freiheit und die Gerechtigkeit tatkräftig eingesetzt hat? Ist im Prinzip nicht jede oder jeder ein Soldat oder eine Soldatin, wenn er oder sie die Heimat verteidigt?

Diese oder ähnliche Fragen müssten gar nicht gestellt werden. Und vergessen wir nicht die anderen verletzten Flüchtlinge aus aller Welt. Die Aufnahme von verletzten Flüchtlingen hat nichts Direktes mit der Neutralität zu tun. Es geht um humanitäre Hilfe und Werte. Dies zu erkennen gehört zu unserer rechtsstaatlichen Verpflichtung und entspricht auch unserer christlichen Tradition. (kath.ch)

* Nicolas Betticher (61) stammt aus Freiburg und ist seit 2015 Pfarrer und Pfarreileiter von Bruder Klaus in Bern. Der ehemalige Generalvikar im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg ist seit Ende 2020 im Bistum Basel inkardiniert. 2021 erschien sein Buch «trotz allem. Macht, Missbrauch, Verantwortung in der katholischen Kirche. Selbstreflexion eines Priesters» im «Herausgeber»-Verlag.