Strand von Barcelona. Foto: cc, Andrey Belenko, flickr.com
Kreative Krise
«Carte blanche» für Patrik Böhler
M. und ich sind in Barcelona und schlendern durch den Park Güell, welcher von Antoni Gaudí gestaltet wurde. Der günstige Eurokurs hat uns zusätzlich motiviert, im Ausland Ferien zu verbringen. Wir tragen lange Hosen, schicke Hemden und führen unsere neu gekauften Ledertaschen aus.
M: Dieser Mann war einfach kreativ.
P: Eine Balance zwischen Natur und Architektur, organisch abgeglichen! Grossartig! Doch ein Bad im Meer würde gut tun bei dieser Hitze. Gehen wir!
M: Schau mal dort hinten diese Chromstahl- Kaffeemaschine. Für diese bezahlst Du in der Schweiz sicherlich um die 60 Franken.
P: Und hier blasse 25 Euro.
M: … mit günstigem Kurs.
P: Den Spaniern geht es ja nicht sonderlich gut. Hohe Arbeitslosigkeit!
M: Staatsanleihen, Risikoprämien ...
P: Bonitäten ...
M: ... Kreativität!
P: Wie meinst du das!
M: Spanien hat schon immer einiges zur Kreativität des Kontinents beigesteuert. Die Spanier haben Sinn fürs Schöne und Elegante. Sie sind kreativ. In der Krise noch mehr als sonst.
P: Du meinst, dass die Finanzkrise die Leute hier kreativer macht.
M: Und ob! Schau dir doch mal die Bars an mit ihren Tapas-Auslagen, die Markthallen, die Musiker auf der Strasse! Die müssen sich etwas überlegen, um ihre Produkte an die Touristen zu bringen. Also greifen sie in die Kreativitätskiste.
Wir kommen an den stadteigenen Strand und legen unsere Badetücher aus. Wie immer stopfe ich mir alle Kleider in die Tasche. Die Schuhe kommen ordentlich rechts neben mein Badetuch hin. Bei M. sieht alles ein wenig anders aus. Neben dem Badetuch liegt die Tasche, die Kleider sind gemäss Chaostheorie um sein Badetuch verteilt. Er schaut mich ungeduldig an, da ich mir noch die Badehose überstreifen muss. Doch schon werfen wir uns in die Wellen. Als wir an unseren Platz zurückkehren, sind unsere Taschen verschwunden. Die Schuhe und die Badetücher sowie die Kleider von M. sind noch da.
P: Alles weg!
M: Oh Shit!
P: Mein Wohnungsschlüssel ist weg.
M: Ich hatte ihn in der Hose. Ah da ist er!
Da ich nun keine Kleider anzuziehen habe, wird M. in unsere Absteige zurückkehren und mir welche holen. M. verspricht mir, sich zu beeilen. Langsam vertreibt der Schatten der Stadt die Sonne vom Strand weg. Die Menschen packen zusammen und gehen. Nach 40 Minuten bin ich noch der Einzige, der hier am Strand sitzt und sich das Badetuch über die Schultern gezogen hat, um sich vor dem Abendwind zu schützen. Ich mache mir Gedanken über Gott und die Welt. Hat die Krise dazu geführt, dass einige Spanier auf solche Zusatzeinkommen angewiesen sind? Was fangen die wohl mit meiner Brille an? Kann ich sie in zwei Jahren integriert in einem Kunstwerk auf einem Platz in Barcelona finden, als Zeichen dafür, dass die Kreativitätsthese von M. stimmt? Langsam beginne ich zu frieren. Der Himmel auf Erden, auf welchen wir noch vor einer Stunde geschworen hätten, verwandelt sich für mich in eine Hölle. Kehrt M. zurück? Und falls nein, was tue ich dann? Überfalle ich in Badehose irgendeinen Kiosk und bedrohe den Verkäufer mit einem Schwemmholz? Suche ich die nächste Kirche auf oder laufe ich bewusst nackt durch die Gassen Barcelonas, damit ich als öffentliches Ärgernis verhaftet werde und die Nacht in einer Zelle verbringen darf? Oder schleiche ich mich durch Lüftungsschächte des Stadions und ... gerade höre ich, wie sich jemand nähert!
M: Hast du kalt?
P: Nein, ich bin kreativ!
Patrik Böhler, Religionspädagoge, Erwachsenenbildner, Mitarbeiter der Fachstelle Religionspädagogik, lebt in Bern. Autorenportraits