An der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2024 sorgte eine Nachstellung von Jan Harmensz van Bijerts «Le festin des Dieux» für Aufregung. Bild: Wikimedia Commons
Kunst und Religion: blasphemisch oder augenöffnend?
Pop- und Body-Art-Kunstschaffende wie Marina Abramović oder Andy Warhol adaptieren Ikonographisches aus dem Christentum. Die Theologin Elke Pahud de Mortanges im Gespräch, wie sie künstlerische Bildwelten in «anders:sehen» neu liest.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Inwiefern gehören Kunst und Christentum für Sie zusammen?
Elke Pahud de Mortanges: Im Christentum und in der Kunst geht es letztendlich darum, wer wir sind und was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Das kirchlich verfasste Christentum neigt dazu, mit eindeutigen, letztgültigen Wahrheiten zu antworten. Den Künsten hingegen gelingt es eher, das Uneindeutige und Ambivalente unseres Menschseins offen zu halten. Im Vortragszyklus «anders:sehen» bringe ich das künstlerische «O Mensch», Titel einer aktuellen Ausstellung in Düsseldorf, und das kirchliche «Ecce homo» miteinander ins Gespräch. Dies, indem ich das Pferd von hinten aufzäume und in den Museen, namentlich, bei der modernen Kunst einsteige, um von da aus die visuellen Welten des Christlichen neu und anders zu entdecken und zu befragen.
Dazu nehmen Sie auch das Schaffen der Performance-Künstlerin Marina Abramović unter die Lupe. Sie möchte etwas schaffen, mit dem das Publikum interagieren, das es fühlen und mit dem es eine persönliche Erfahrung machen könne. Wie haben Sie ihre Werke erlebt?
Pahud de Mortanges: Mir geht Abramovićs Kunst unter die Haut – mehr noch, sie nimmt mich in meinem Menschsein existenziell in die Pflicht. Ihre Werke haben nichts Museales, nichts von einem Spiel oder Theaterstück. Alles ist ernst – der Ernstfall des Menschseins schlechthin, wie Abramović sich uns da ausliefert. Sie geht bis und über ihre Grenzen hinaus und vielleicht auch über unsere eigenen. In der aktuellen Retrospektive ihres Lebenswerks in Zürich musste ich in der Re-Inszenierung der Performance «Imponderabilia» von 1977 zwischen zwei Menschen durchgehen, die Teil der Ausstellung waren. Es liess sich nicht vermeiden, sie unwillentlich zu berühren. Das wiederum berührte mich, denn die beiden waren splitternackt. So mittendrin fragte ich mich: Wie gehe ich mit der Vulnerabilität anderer und wie mit meiner eigenen um? Wie mit Distanz, mit Asymmetrien, mit Nacktheit?
In ihren Performances hat Abramović mitunter ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Wie weit soll oder darf Kunst bei religiösen Themen gehen?
Pahud de Mortanges: Die Frage ist mehr als aktuell. Die Nerven liegen schnell blank. Denken Sie an die ganze Aufregung zur Eröffnungsfeier der olympischen Sommerspiele in Paris. «Das Dragqueen-Abendmahl verspottet Christen», titelte die NZZ am 29. Juli empört. Dass es sich dabei nicht um eine Nachstellung von da Vincis «Letztes Abendmahl», sondern des Gemäldes «Le festin des Dieux» von Jan Harmensz van Bijlert handelte, ging dabei völlig unter. Deshalb: Bitte genau hinsehen und nicht vorschnell Blasphemie rufen.
Wann geht Kunst für Sie zu weit?
Pahud de Mortanges: Kunst darf, ja muss, das hässliche Gesicht von Hass und Gewalt zeigen. Wer aber Hass schürt und zu Gewalt aufruft, kann sich dafür nicht auf die Freiheit der Kunst berufen. Das ist für mich die Grenze schlechthin.
In «anders:sehen» stellen Sie Leonardo da Vincis Christus einem Bodybuilder gegenüber. Wie ist diese Trinität aus Religion, Kunst und Sport entstanden?
Pahud de Mortanges: Der Pop-Art-Künstler Andy Warhol arrangierte das Setting «Christus versus Bodybuilder» in seiner Serie «Last Supper». Manche sehen darin eine kritische Spitze gegen den vermeintlich profanen Körperkult im Sport und ein Votum für den geistlich-spirituellen Leib Christi im kirchlichen Abendmahl. Doch Warhol, der selber Bodybuilding machte, zielt auf etwas anderes ab: dass Christ:innen Jesus viel zu lange in seinem realen Körpersein nicht ernst nahmen. Mir wurde Warhols «Be a Somebody with a Body» zum Augenöffner und Anstoss dafür, das Letzte Abendmahl, den Körper Jesu und der Menschen im Christentum aus einer anderen Perspektive zu sehen.
«Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt», sagte Joseph Beuys 1984. Wie ordnen Sie das Zitat dieses Künstlers in seine Zeit ein, als es die Volkskirche noch gab?
Pahud de Mortanges: Joseph Beuys wurde im rheinischen Katholizismus sozialisiert. Mit dem kirchenförmigen Christentum aber hatte er wenig am Hut. Bereits 1961 trat er, 40-jährig, aus der Kirche aus. Der auferstandene Christus jedoch blieb für ihn die spirituelle, transformatorische Kraft. Sie wollte er mit seiner «anthropologischen Kunst» beerben und als soziale Praxis und Plastik umsetzen. Mysterien werden gemäss Beuys nicht exklusiv in den Sakramenten der Kirche verwaltet, sondern geschehen überall dort, wo Menschen die Christuskraft schöpferisch wirkmächtig werden lassen und spirituelle Transformationsprozesse leben. Diese ungeheure Entgrenzung und Ermächtigung impliziert ein «Überall und alle». Das hat Beuys auch in die oftmals missverstandene Formel «Jeder ist ein Künstler» gegossen.
Beuys’ Zitat mag prophetisch klingen. In Hauptbahnhöfen drohen Mysterien mittlerweile in der allgegenwärtigen Mobilität und im Massentourismus unterzugehen. Wo würden Sie Mysterien heutzutage verorten?
Pahud de Mortanges: Ich halte es da weiterhin mit Beuys. Mir scheint sein «Hauptbahnhof» eine weiterhin gültige Chiffre zu sein, die das potenzielle «Überall und alle» offenhält. Kein öffentlicher Raum, keine Tätigkeit des Menschen ist zu profan oder zu trivial, um nicht Mysterium sein zu können. Das Gewusel und Gewimmel, das Kommen und Gehen, das Flüchtige und Fluide, das In-Bewegung-Sein widersprechen Mysterien nicht, sondern sind Elemente davon. Frech formuliert: Die Fluxus-Bewegung, zu der Beuys gehörte, zielte genau darauf ab. Wenn wir heute nach Mysterien fragen, können wir diese in seiner Spur nochmals anders sehen. Und vielleicht auch leben. Jetzt.
«anders:sehen»: Religion und Kunst im Gespräch
Do, 7. November: Icon Meets Icon. «anders:sehen» anhand von Performances der Body-Art-Künstlerin Marina Abramović.
Do, 14. November: «Be a Somebody with a Body». Christus vs. Bodybuilder? Andy Warhols und weitere Adaptationen von Leonardo da Vincis «Abendmahl» ermutigen dazu, mittelalterliche Bildwelten im Licht gegenwärtiger Diskurse über Geschlecht und Diversität neu zu lesen.
Do, 21. November: «Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt». Kirchen sind heute fast menschenleer. Laut dem Künstler Joseph Beuys finden das Leben und die Mysterien anderswo statt. Wo, hat er für die Kunst und das Christentum neu umrissen.
Do, 28. November: Heavenly Bodies oder The Beauty of Diversity. Der katholische Heiligenhimmel ist voller, bunter und vielfältiger, als wir glauben. Wie sich der Heilige Sebastian vom römischen Soldaten und Märtyrer zur queeren Ikone der Gegenwart gewandelt hat.
Diese vier Vorträge von Elke Pahud de Mortanges, Theologieprofessorin und Dozentin zu Kunst, Kultur und Geschlecht, finden jeweils von 18.00 bis 19.30 an der Paulus-Akademie Zürich und im Rahmen des 100. Jubiläums der St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche statt.
Weitere Infos: www.paulusakademie.ch. Tickets: www.ticketino.com (Schlagwort anders:sehen)