Sozialleistungen kürzen heisst bei denen sparen, die gar nichts sparen können. Bild: himberry / photocase.de
Kurzfristige Sparrunde, die langfristig nicht aufgeht
Das Berner Modell mit den geplanten Änderungen beim kantonalen Sozialhilfegesetz ist heftig umstritten. Der Ausbau der Sanktionierungsmöglichkeiten und die Leistungskürzungen für Neubezüger von Fürsorgegeldern belasten auch die kirchlichen Sozialdienste, die mehr und mehr zu einem Auffangbecken abgeschobener Sozialhilfebezüger mutieren. Zwei kirchliche Sozialarbeiterinnen über ihre tägliche Arbeit.
«pfarrblatt»: Isabelle Altermatt, Sie arbeiten im Berner Westen in der Pfarrei St. Antonius, Sie, Marie-Hélène Aubert, in der Pfarrei Bruder Klaus, im Berner Osten. Wie beeinflussen die vorgeschlagenen Änderungen des Sozialhilfegesetzes ihre Arbeit?
Isabelle Altermatt: Uns geht es in unserer Arbeit um die Menschenwürde, um die Begegnung auf Augenhöhe, um ein Leben mit Perspektive.
Marie-Hélène Aubert: Politische Sparübungen, was die Änderungen des Sozialhilfegesetzes in Wirklichkeit sind, erschweren diese Haltung.
Die Kürzungen von 15% werden unter anderem auch damit begründet, dass die BezügerInnen motiviert werden sollen, einen Job zu suchen.
Isabelle Altermatt: Das aber sind die Realitäten: Ein Familienvater, der zu 80% als Putzkraft arbeitet, könnte zwar noch 20% aufstocken, wenn das sein Betrieb zuliesse, oder wenn er eine bessere Stelle fände. Aber das Einkommen wird dadurch, wie überall im niedrigen Lohnsegment, bei 20 bis 22 Franken pro Stunde nicht markant besser.
Marie-Hélène Aubert: Der Wunsch, die Leute zu motivieren, indem man Leistungen kürzt, ist völlig illusorisch. Es tönt doch so, als seien alle Menschen, die Sozialhilfe beziehen, arbeitsscheu. Von 1000 gibt es vielleicht einen, der es cool findet, von Sozialhilfe zu leben. Hinter dieser Coolness steckt aber die verborgene Scham, nicht selbstständig zu sein. Die meisten möchten möglichst schnell weg von der Sozialhilfe. Aber es hat zu wenig Arbeitsstellen, es fehlen Qualifikationen, Ausbildungen, dann gibt es gesundheitliche Einschränkungen. Hier über neue Kürzungen Druck aufzubauen ist wenig hilfreich für eine Integration. Im Gegenteil, dieser Druck ist kontraproduktiv.
Können Sie das begründen?
Isabelle Altermatt: Ich begleite Personen, die vom städtischen Sozialdienst zu uns kommen, weil sie mit den Grundleistungen normale Rechnungen wie Billag, EWB, Miet-Nebenkostenabrechnungen nicht bezahlen können. Diese Anfragen werden wohl zunehmen. Ich denke da an eine zwölfköpfige Familie, die Kürzungen hinnehmen muss, die für sie einschneidend sind. Der Mann arbeitet im Reinigungswesen, die Frau betreut die Kinder, braucht aber, weil sie physische wie psychische gesundheitliche Probleme hat, die Unterstützung des Mannes. Der Lohn reicht natürlich nirgends hin. Die Budgets der staatlichen Sozialdienste spiegeln die Realitäten der Familie nicht. Der Grundbedarf reicht für die Auslagen, die für uns alle normal sind, nicht. Wenn nun die Leistungen 15%, bei renitenten Bezügern gar 30% gekürzt werden, reicht das Geld nirgends mehr hin. Schon heute springen wir mit Gesuchen an Stiftungen, Institutionen zur Unterstützung ein. Dazu kommt, dass die offiziellen Verfügungen der kantonalen Sozialdienste oder der Fremdenpolizei an die Betroffenen oft wie eine Anklage klingen. Der Bezug von Sozialhilfegeldern wird zum kriminellen Akt gemacht.
Marie-Hélène Aubert: Wenn die verschärften Richtlinien eine nötige Sofortunterstützung der staatlichen Sozialdienste nicht zulässt, oder ablehnt, verweisen diese ihre Klientel gerne an die kirchliche Sozialarbeit weiter. Das ist Fakt. Eigentlich aber ist es der Auftrag des Staates, für die Hilfesuchenden zu schauen. Meine Klienten melden sich oft viel zu spät an, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie es aus eigener Kraft doch noch aus der Finanznot schaffen. Wenn sie dann zum Sozialdienst gehen, haben sie wirklich nichts mehr und brauchen sofort Hilfe. Bei den staatlichen Sozialdiensten müssen sie aber auf einen Termin warten, zuerst müssen alle Dokumente ausgefüllt und zusammengetragen werden. Das kann Wochen dauern. In dieser Zeit helfen wir vom kirchlichen Sozialdienst aus. Und sind damit ein Feigenblatt für die verkappte Sparübung des Staates.
Marie-Hélène Aubert: So ist es. Wir übernehmen eine Aufgabe des Staates, weil wir die Leute nicht verhungern lassen wollen. Damit aber decken wir den Staat, sind quasi ein Feigenblatt für die Änderungen, die klare Verschlechterungen sind.
Isabelle Altermatt: Ich habe schon Klienten auf den staatlichen Sozialdienst begleitet für die Erstanmeldung, um zu zeigen, dass eine Soforthilfe unabdingbar ist. Den Kolleginnen sind aber durch die Gesetze die Hände gebunden und sie sagen, sie dürfen erst handeln, wenn die Gesamtsituation erfassbar sei. Die Gesamtsituation erfassen wir auch, aber einfach schneller. Und wir helfen auch mal, wenn noch ein Papier fehlt.
Also sind die kirchlichen Sozialdienste wie ein Fallschirm, ein Sicherheitsnetz, für die kantonalen Stellen, die ihre Klientel zu der Kirche schicken, wenn sie selber keine Soforthilfe leisten dürfen?
Isabelle Altermatt: Genau. Die kirchlichen Sozialdienste ergänzen die städtische Hilfe, was wir allerdings nach dem Gesetz nicht dürften. Wir könnten neu gar angeklagt werden, wenn wir über die Auszahlung des Grundbedarfs zusätzliche Rechnungen begleichen.
Aus welchen Ländern stammen Ihre Klientinnen und Klienten?
Marie-Hélène Aubert: Ich betreue beides, Menschen aus der Schweiz und dem Ausland.
Isabelle Altermatt: Im Berner Westen sind es mehr Ausländer. Ich betreue aber auch Schweizerinnen und Schweizer. Unsere Nationen sind Italiener, Südeuropa, Türkei, Spanien, Portugal, Albanien, Afrikanische Länder wie Eritrea, Somalia und einzelne Nordafrikaner, und neustens auch Menschen aus Brasilien.
Die neuen Massnahmen sollen auch dazu führen, so gewisse Politiker, Sozialhilfeempfänger in die Selbstständigkeit zu führen.
Marie-Hélène Aubert: Das ist der grosse Wunsch, der hinter all den Kürzungen und Verschärfungen steht. Die Selbstständigkeit ist aber mit Druck allein nicht zu haben. Da braucht es die Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen. Aber man muss realistisch sein ...
Isabelle Altermatt: ...wenn jemand am Rande des Existenzminimums lebt, oder zum Beispiel knapp über den Skos-Richtlinien, der braucht dann bei den genannten Zusatzaufwendungen trotzdem Hilfe. Wer Working Poor ist oder mit kleinem Budget leben muss, sich stellenmässig nicht verbessern kann, wird immer Budgetposten haben – Zahnarztrechnungen, höhere Nebenkostenabrechnungen, steigende Krankenkassenprämien – die sie im selbstständigen Budget nicht auffangen können. Wie will ein Vater, der 3800 Franken verdient und seine Familie mit vier Kindern erhalten muss, eine Nebenkostenabrechnung von 1200 Franken bezahlen? Hier helfen auch die Glückskette, der Beobachter und verschiedene andere Stiftungen aus, an die wir Gesuche für unsere Klientel stellen.
Marie-Hélène Aubert: Es gibt Aussteiger aus der Sozialhilfe, die wegen den schlechten Erfahrungen, die sie mit den vielen administrativen Hürden und Kontrollen gemacht haben, keine Sozialhilfe mehr beziehen wollen. Sie fühlen sich klein gehalten. Und ich verstehe das. Die Integrationszulagen beispielsweise sind auf 100 Franken gekürzt worden. Eine Frau, die schon sehr knapp bei Kasse ist, und in einer Wohnung lebt, die etwas teurer ist, als es die Richtlinien zulassen, muss diese Mehrkosten von ihrem Grundbedarf decken. Sie findet aber keine günstigere Wohnung, weil es ja nicht einfach ist, überhaupt eine Wohnung zu finden. Da nun auch die Integrationszulagen gekürzt wurden und sie ihren Grundbedarf teilweise für das Wohnen verwenden muss, ist jede Bahnfahrt zum Arzt eine Belastung. Hier noch Druck aufzubauen heisst, die Angst vor Schulden zu fördern, und die will sie nicht riskieren, weil es mit Schulden ja noch schwieriger wird, die Wohnung zu behalten, geschweige denn eine neue zu finden. Die Klientin ist Schweizerin, hatte eine gute Anstellung, ist nun in einem Alter, die eine neue Anstellung erschwert. Deshalb hat sie auch gesundheitliche Probleme bekommen. Nochmals: Hier mit Kürzungen und Drohungen Druck aufzubauen, ohne realistische Perspektiven zu eröffnen, hilft nicht weiter. Durch den Verlust ihrer früheren Arbeit hat sie auch viele soziale Kontakte verloren, das Beziehungsnetz zerbrach, weil Veranstaltungsbesuche zu kostspielig wurden. Es ist ein Teufelskreis.
Wie müsste denn ein griffiges Sozialhilfegesetz Ihrer Meinung nach aussehen?
Marie-Hélène Aubert: Ich möchte ein neues Gesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt rückt, das Krankheiten anerkennt, auch die psychischen. Und dass es möglich wird, langfristig einen Plan zu erstellen, wie eine Person wieder zur Selbstständigkeit gelangen kann. Das kostet am Anfang halt etwas. Alle auf ein Existenzminium zu reduzieren ist eine kurzfristige Sparrunde, die langfristig nicht aufgeht.
Isabelle Altermatt: Ich glaube, die Gesellschaft muss dazu stehen, dass es immer Menschen gibt, die einfach das, was unsere Gesellschaft an Leistung verlangt, nicht leisten können. Da gibt es physische wie psychische Gründe. Es wird immer renitente Menschen geben, die für ihre Rechte einstehen wollen, die sich nicht krank schreiben lassen wollen, aber ohne entsprechende Diagnose keine Hilfe erhalten können. Es gibt einfach Menschen, die sich nicht in unser System integrieren wollen. Auf die muss ein Sozialhilfegesetz auch ausgerichtet sein.
Marie-Hélène Aubert: Manchmal ist es die einzige Macht dieser Menschen, die sie noch haben, sie können Nein sagen und sich verweigern.
Isabelle Altermatt: Diese Akzeptanz fordere ich von der Gesellschaft. Auch diese Menschen haben das Recht auf ein würdiges Leben, auch wenn sie am Rand dieser Gesellschaft leben. Darauf können wir kirchlichen Sozialdienste noch reagieren. Das entspricht meinem Menschenbild, meinem Kirchenbild und meinem Leben.
Marie-Hélène Auber, Isabelle Altermatt, herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview: Jürg Meienberg