«Lieber sterben, als Kaminfegerbub werden…»

«Lieber sterben, als Kaminfegerbub werden…» … sagte ein Tessiner Knabe. Hinter dem Satz steht die Geschichte einer Ausbeutung.

 

Beatrice Eichmann-Leutenegger

Hoch oben wölbt sich der Himmel, unten kauert das enge Tal, steigt immer weiter an, bis es sich zur Hochebene weitet. Gelassen lagert das Dorf mit seiner imposanten Kirche Santa Maria Assunta, den malerischen Gassen, den Palazzi mit ihren baumreichen Gärten und der Piazza Risorgimento, wo sich die Einwohner treffen.

Aus den unergründlichen Wäldern des nahen Valgrande weht frische Luft herüber, und nachts hört man keinen Laut. Santa Maria Maggiore im Val Vigezzo: ein bezaubernder Ort im nördlichen Piemont. So möchte man denken, denn nichts scheint die Idylle abseits der Touristenströme zu stören. Doch kaum betritt man das Museo dello Spazzacamino auf der Rückseite der Villa Antonia, wird man in eine andere Welt hineingerissen. Gleich beim Eingang schlägt einem der Geruch von Russ entgegen, der noch immer in den Kleidern der Kaminfegerbuben steckt.

Das 1983 gegründete und 2005 in erweiterter Form präsentierte Schornsteinfeger-Museum, einzigartig in Italien, erzählt die Geschichte einer Ausbeutung von Kindern, den Kaminfegerbuben, «Spazzacamini» genannt. Ihr Leid kennen manche dank der Lektüre des bekannten Jugendbuches, das die deutsche Autorin Lisa Tetzner (1894–1963) im Jahr 1941 veröffentlicht hat: «Die schwarzen Brüder». Es erschien zu einem Zeitpunkt, als ein vergleichbares Schicksal, das Los der Verdingkinder, noch kein Thema der öffentlichen Debatte bildete.

Grundlage für Lisa Tetzners Buch war eine Chronik mit dem Titel «Kleine Schweizer Sklaven», welche die in Carona lebende Autorin entdeckt hatte. Sie war 1933 mit ihrem Gefährten, dem KPD-Politiker Kurt Kläber, aus Nazi-Deutschland geflohen, weil sie beide wegen ihrer antinazistischen Haltung verfolgt wurden. Das Buch «Die schwarzen Brüder» entstand als gemeinsames Werk, wurde aber unter dem Namen Lisa Tetzners publiziert, da Kurt Kläber alias Kurt Held («Die rote Zora und ihre Bande») als politischer Flüchtling galt und deshalb ein Arbeitsverbot erhielt.

Das Buch schildert das Schicksal des Knaben Giorgio aus Sonogno im Verzasca-Tal, der im Spätsommer 1838 von einem italienischen «padrone» als Kaminfegerbub für einen Meister in Mailand angeheuert wird. Was er erlebt hat, wird heute von Historikern weitgehend als realistisch eingeschätzt. Giorgio kann sich seinem Los nicht entziehen, denn die kinderreiche Familie braucht dringend Geld, um die Arztkosten für die kranke Mutter zu bezahlen – allerdings ist ein Spazzacamino nur einen Spottpreis wert.

Der Winter mit seinen Härten steht vor der Tür, und ein Hungriger weniger am Tisch entlastet die grossen Familien mit ihren oft bis zu 20 Kindern. Wie sehr die Sonnenstube einst ein Schattenloch gewesen ist, haben Tessiner Autoren wie Plinio Martini oder Giovanni Orelli in Erinnerung gerufen. Nicht nur aus dem Verzascatal stammten die Spazzacamini, sondern auch aus dem Centovalli und dem Maggiatal, ebenso aus dem Aostatal oder dem Val Vigezzo auf der italienischen Seite.

Die «Padroni» streiften im Spätsommer durch die Täler und suchten nach schmächtigen Knaben, die durch den engen Kamin hochsteigen und ihn reinigen konnten. Die Jüngsten waren fünf oder sechs Jahre alt – der Blick auf die kleinen Schuhe im Museo dello Spazzacamino lässt den Atem stocken. Die angeheuerten Knaben unterlagen einem Schweigegebot: Was sie in der Fremde erleben würden, sollten sie niemandem erzählen. Dennoch sickerte einiges durch.

Von den Kaminfegermeistern, die sie in Mailand, Vercelli, Saronno, Voghera, Pavia, Turin kauften, erhielten sie nebst dem mickrigen Lohn einen Schlafplatz auf Lumpen im Keller und kaum zu essen, damit sie nicht an Gewicht zulegten. «Eine warme Minestra pro Woche», erinnert sich einer der Betroffenen, dessen Aussagen das Museum in Santa Maria Maggiore nebst anderen Zeugnissen auflistet. «Ho freddo, ho fame, son poverino», so lautet das Lied der Spazzacamini, das in den Tessiner Familien noch bis vor wenigen Jahrzehnten gesungen worden ist.

Die ersten Kaminfegerbuben waren bereits um 1550 nach Oberitalien gezogen, die letzten brachen um 1950 auf. Mit dem Aufkommen der Ofenheizung endete ihre Emigration. 1873 hatten die Tessiner Behörden ein Verbot erlassen: Buben unter 14 Jahren, später unter 12, durften nicht mehr verkauft werden. Doch die Familien der betroffenen Täler lehnten sich wegen ihrer Armut gegen diese Massnahme auf. Weiterhin zogen die Knaben im Herbst Richtung Oberitalien und kehrten nach Ostern des Folgejahres zurück, nur um im folgenden Herbst erneut aufzubrechen und das lebensgefährliche Handwerk auszuüben.

Ausgestattet waren sie mit der Raspel, dem Besen, einem Sack für den Russ, einem Seil sowie der Mütze, welche die Augen verdeckte. Viele sahen ihre geliebten Berge nie mehr, weil sie in der Fremde starben. Sie waren durch den Kamin gestürzt, hatten sich in der Hitze Verbrennungen zugezogen oder die Lungen wegen einer Russvergiftung geschädigt. Vor allem aber setzten ihnen Hunger, Prügel und Entkräftung zu. «Cara mamma, meglio morire che farmi spazzacamino», schrieb einer der Knaben nach Hause.

Die «Opera Pia», ein im Mittelalter gegründetes italienisches Wohltätigkeitswerk, kümmerte sich um die Knaben und spendierte ihnen an Weihnachten und Ostern ein reichliches Essen. Aber diese Hilfe änderte nichts an den Grundstrukturen, nämlich der wirtschaftlichen Not der Täler, welche die Eltern zur Ausbeutung ihrer Kinder in der Fremde zwang. Nicht anders erging es den «Schwabenkindern» aus dem Bündnerland und dem Vorarlberg, die in Ravensburg auf dem Markt als kleine Mägde und Knechte feilgeboten wurden.

Lisa Tetzners Buch «Die schwarzen Brüder» wurde erst 2005 ins Italienische übersetzt – ein Indiz für die mangelnde Bereitschaft in der Südschweiz und in Italien, sich dieser Vergangenheit zu stellen? Indessen engagierte sich der Journalist und Autor Benito Mazzi (1938–2022) aus Santa Maria Maggiore für das Schicksal der Kindersklaven und veröffentlichte 2000 sein Buch «Fam, füm, frecc, il grande romanzo degli spazzacamini».

Elisabeth Wenger, einstiges Verdingkind, publizierte 2010 die Dokumentation «Als lebender Besen im Kamin» mit Aussagen der noch lebenden betroffenen Zeugen. Im gleichen Jahr kamen «Die schwarzen Brüder» als Musical auf die Seebühne Walenstadt. Ebenfalls gelangte 2013 Xavier Kollers Verfilmung des Stoffs ins Kino.

Jedes Jahr findet in Santa Maria Maggiore um Ende August, Anfang September herum ein Ereignis statt, das Teilnehmende aus über 20 europäischen Ländern und selbst aus Amerika und Japan anzieht: das Treffen der Schornsteinfeger, das sich zu einem Volksfest gewandelt hat und nichts mehr vom Elend der Spazzacamini ahnen lässt. Doch im Dorfzentrum steht fast auf jedem Dach ein metallener Knabe, soeben dem Kamin entstiegen, der an diese Leidensgeschichte erinnert. Diese mahnt daran, dass auch in der Gegenwart Millionen von Kindern ausgebeutet werden.
 

Buchtipps
Lisa Tetzner: Die schwarzen Brüder; Fischer/Sauerländer, Frankfurt a. M. 2024 (überarbeitete Neuausgabe).
Elisabeth Wenger: Als lebender Besen im Kamin; Book on Demand, Norderstedt 2010.
Benito Mazzi: Fam, füm, frecc, il grande romanzo degli spazzacamini; Priuli & Verlucca, Scarmagno (TO) 2000. Deutsche Übersetzung: Hunger, Russ, Kälte. Schornsteinfeger Verlag, Erfurt 2001.