Vertrauen, Dank und Bitte, aber auch Klage und Zweifel finden Raum. Gräberaufhebung in Köniz, 2020. Foto: Pia Neuenschwander
Liturgie entwickelt sich bis heute weiter
Was ist Liturgie im Kern?
Christ:innen erleben ganz unterschiedliche Formen von Liturgie: einmalige Feiern an Lebenswenden, das jährliche Weihnachtsfest, die sonntägliche Eucharistie und Kommunionfeier, das Chorgebet einer Klostergemeinschaft, Segensfeiern wie am Valentinstag usw. Was verbindet all diese Vielfalt? Was ist Liturgie in ihrem Kern?
von Antonia Manderla, Seelsorgerin in der Pfarrei Guthirt, Region Bern
Liturgie feiert Begegnung zwischen Gott und Mensch. Sie geschieht durch Jesus Christus. Wo sich Christ:innen zum Gottesdienst versammeln, da glauben sie der Zusage Jesu: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.» (Mt 18,20)
Die Begegnung mit Gott in der Liturgie geschieht wie eine zwischenmenschliche Begegnung durch Worte und Zeichen. Sie verweisen auf die unsichtbare, verborgene Gegenwart Gottes.
Tradition und Inkulturation
Frühe Spuren von gottesdienstlichen Elementen finden wir in der Emmaus-Geschichte (Lk 24,1–35). Sie erzählt von Gottes Nähe in Jesus Christus, wenn wir aus der Heiligen Schrift lesen, das Leben in ihrem Licht deuten und miteinander das Brot brechen. Im Lauf der Geschichte hat sich dieser gottesdienstliche Kern (Apg 2,42) weiter entfaltet. Aus kleinen hauskirchlichen Versammlungen wurden mit der weltweiten Verbreitung des Christentums öffentliche Gottesdienste, die sich zur gesellschaftlichen und religiösen Umwelt abgrenzten oder daran anlehnten.
Bis heute entwickelt sich Liturgie weiter und steht dabei in einer Spannung. Einerseits verbindet sie Christ:innen über Raum und Zeit hinweg durch gemeinsame Gebete, biblische Lesungen und sakramentale Zeichen. Andererseits will sie in eine bestimmte Zeit, Kultur und Sprache hinein geprägt sein.
Den Horizont weiten
Zur Ruhe kommen, Gemeinschaft erleben, miteinander singen und beten, Christus im Mahl begegnen, von Gott hören, etwas «mitnehmen können» für den Alltag, das Leben gesegnet wissen – all dies suchen und erleben Menschen im Gottesdienst.
Wer selten teilnimmt, empfindet das Tun als fremd. Wie eine Sprache kann gottesdienstliches Feiern jedoch eingeübt werden. Die Wiederholung gibt dem Gottesdienst als Ritual seine Kraft. Persönliches Beten und persönlicher Glaube werden eingebettet in das Beten und den Glauben der Gemeinschaft. Vertrauen, Dank und Bitte, aber auch Klage und Zweifel finden Raum.
Mir persönlich ist es wichtig, mein Leben in einen grösseren Horizont stellen zu können. Nicht nur «ich» als Mensch spreche mich im Gebet aus vor Gott, sondern ich höre auch immer wieder neu, wer Gott für uns Menschen sein will und wer wir Menschen füreinander sein können.
«Heute hat sich erfüllt»
Die Bibel erzählt, wie Jesus an einem Gottesdienst seiner jüdischen Gemeinde aus der Schriftrolle vorlas (Lk 4,16–30). Ihre Botschaft der Freiheit machte er zu seinem Lebensprogramm bis hinein in den Tod. Jesus holte Menschen vom Rand in die Mitte.
Seine Gemeinschaft brauchte keine hierarchische Gliederung, seine Worte und Zeichen waren schlicht, klar und kraftvoll. Die Begegnung mit ihm schenkte verwundeten, traurigen, einsamen, suchenden und mit Schuld beladenen Menschen neues Leben. Liturgie zu einer heilsamen und befreienden Begegnung werden zu lassen, das ist bleibende Aufgabe für uns alle.