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Lose Beziehungen

24.02.2022

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

«Was gibt Ihnen Kraft?», frage ich mein Gegenüber, nachdem sie mir im Spitalbett einen Einblick in ihre anspruchsvolle Geschichte gewährt hat. «Meine Familie und meine engsten Freunde!», antwortet sie ohne zu zögern. Die Antwort überrascht mich nicht. Auch in grossen Befragungen werden enge Beziehungen als mit Abstand wichtigster Aspekt des persönlichen Wohlbefindens genannt.

Vor ein paar Jahren erstellte der Autor Joel Stein als Antwort auf die vom Time Magazine jährlich veröffentlichte Liste der 100 wichtigsten Personen seine eigene Liste. Er nannte sie «Joel’s 100». Das Erstaunliche an dieser Liste ist, dass nur 18 Personen aus seinem Freundes- und Familienkreis stammen. Die übrigen 82 Personen auf der Liste sind Menschen, die Stein gar nicht besonders nahestehen: sein Augenarzt etwa, bei dem er jährlich zur Kontrolle geht, oder die Betreiberin seines Lieblingsimbisses. Stein wurde bewusst, dass er ausserhalb seines engen Familien- und Freundeskreises eine Menge Kraft aus losen Beziehungen in seinem Umfeld schöpft. Es sind Menschen, die er «sonst noch so kennt», die ihn in der Welt verankern und die ihm das Gefühl geben, in einem grösseren Ganzen aufgehoben zu sein. Wie wichtig solch lose Bindungen für das Wohlbefinden sind, wurde mir in der Zeit der Kontaktbeschränkungen während der Pandemie bewusst. Ich schätze mich glücklich, dass meine Alltagswelt so grosszügig bevölkert ist mit flüchtig nahen Bekanntschaften.

«Was wünschen Sie sich?», frage ich mein Gegenüber, nachdem sie mir im Spitalbett ihre verzwickte Lage erklärt hat. «Ich möchte einfach meinen Alltag zurück», antwortet sie. Und sie meint damit genau diesen mit losen und unendlich wertvollen Beziehungen angereicherten Alltag: das Plaudern beim Bäcker, der Coiffeurtermin, die Begegnung in der Bibliothek, der Austausch im Treppenhaus.

Weiterlesen: Melinda Blau, Karen Fingerman: Consequential Strangers: The Power of People Who Don’t Seem to Matter ... But Really Do. Norton, New York, London 2009

Marianne Kramer, ref. Seelsorgerin

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