Foto: iStock/bgfoto

Lose Enden

09.12.2020

Wieder an die Gegenwart anknüpfen

Wäre ich von der religiösen Seite auf ihn zugekommen – er hätte rundweg abgelehnt, sagte er plötzlich. Mit dieser persönlichen Herangehensweise hingegen schätze er es, dem im Erzählen nachzuspüren, was ihn so sehr bewegt. So äusserte er sich nach etlichen Begegnungen unvermittelt. Manchmal allerdings war er viel zu müde gewesen für mehr als einen Gruss und ein paar Worte, einen Blick zu den Augen, die sich gleich wieder schlossen; so erledigt war er vom ganzen Tagesprogramm und all den Untersuchungen oder Therapien. Und anstrengend war es für ihn auch, weil er so vieles nicht auf die Reihe bringen konnte: Was war denn das mit diesen Farben da oben? Er hatte sie doch klar und deutlich gesehen: grosse Farbwolken an der Decke, in kräftigem Rot und auch anderen Farben. Aber dann wiederum sah er sie nicht, und die Decke war weiss. Worauf ist denn Verlass?!

Heute nun geht es ihm deutlich besser. Es beschäftigt ihn, dass er sich nicht erinnern kann, was eigentlich passiert war, während Stunden, ja Tagen. Er war unterwegs gewesen in ihm nicht unvertrautem Gebiet. Dann weiss er nichts mehr. Aufgewacht ist er erst im Inselspital. Wenn es dann Zeit ist, will er dem gewiss noch genauer und vor Ort nachgehen, um möglichst viel nachzuvollziehen. Seine Tochter habe ihm inzwischen auf den Kopf zugesagt, dass er nun tot sein könnte. Das so zu hören, erschüttert ihn schon, obwohl ihm das eigentlich ja auch selber klar ist. Aktuell treibt es ihn, anzuknüpfen und in der Gegenwart eines ihm vorher fremden Gegenübers wie mir als Seelsorgerin nach dem zu suchen, der er war und doch immer noch ist. Ich habe den Eindruck beim Erzählen von seinen Orten und Wegen, sei er nahe bei sich selber. Dafür ist er dankbar und ebenso, die losen Enden sorgsam aufzuspüren. Das kann er deutlich zeigen. Den Versuch zu unterstützen, sich wiederzufinden und Loses in die Hand zu nehmen und einen Moment hinzusehen, bewegt mich. Vielleicht wird das Lose dann einmal noch eingewebt in den Teppich seines Lebens.

Ingrid Zürcher, ref. Seelsorgerin

Kolumnen aus der Inselspitalseelsorge im Überblick