«Caritas Bern wird sich gegen das neue Gesetz engagieren.» Oliver Lüthi. Foto: Pia Neuenschwander

«Man muss sich wehren»

04.04.2018

Das neue Sozialhilfegesetz - Oliver Lüthi zu den Konsequenzen für die Betroffenen und zur sozialpolitischen Verantwortung des Staates

Der Kanton Bern kürzt den Grundbedarf bei der Sozialhilfe. Verschiedene sozial engagierte Institutionen und die Kirchen wehren sich. Oliver Lüthi, Leiter der Kommunikation der Caritas Bern, spricht über die Konsequenzen für die Betroffenen und sagt, der Staat entziehe sich seiner sozialpolitischen Verantwortung.


«pfarrblatt»: Das neue Sozialhilfegesetz will sparen und dadurch Arbeitsintegration fördern. Kann das wirklich funktionieren?

Oliver Lüthi: Es ist nicht per se ausgeschlossen, dass mit weniger Mitteln eine höhere Leistung erzielt wird. In der Sozialhilfe funktioniert dieser Ansatz aber aus unserer Sicht nicht. Um Personen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, braucht es entsprechende Mittel. Oder andersherum gesagt: Falls bei Sozialhilfebeziehenden immer mehr gespart wird, besteht die Gefahr, das Ziel aus den Augen zu verlieren: deren erfolgreiche berufliche oder zumindest soziale Integration. Tiefere Sozialhilfeansätze führen zu mehr Prekarisierung und sozialer Isolation, was der Integrationsabsicht zuwiderläuft.

Nun wird nach neuen Berichten die Unterstützung trotz anderer Versprechen nochmals gekappt. Die Sparwut trifft nun auch die Arbeitswilligen.

Mit Stand heute handelt es sich dabei um eine Vermutung, die in den letzten Tagen von verschiedenen Medien geäussert wurde. Da die Kantonsregierung künftig auf dem Verordnungsweg die Höhe der Integrationszulagen und Einkommensfreibeträge festlegen können soll, verfügt sie hier aber über einen relativ grossen Spielraum.
Der Verzicht auf die Erhöhung der Zulagen bei gleichzeitiger Senkung des Grundbedarfs würde dabei dem Anspruch der Regierung widersprechen, in der Sozialhilfe vermehrt mit Anreizen zu arbeiten. In der Tat hätten dann gerade die Personen, die sich intensiv um eine Stelle bemühen, kaum etwas von der neuen Regelung.

Der kirchliche Sozialdienst wird nun mehr und mehr belastet. Ist das nicht einfach ein blosses Abschieben der Bedürftigen?

Das ist eine Entwicklung, die wir als Caritas immer wieder kritisiert haben. Mit seinem Rückzug aus der Sozialhilfe entzieht sich der Staat zunehmend seiner sozialpolitischen Verantwortung. Gleichzeitig überlässt er es den Kirchen, Hilfswerken und Privaten, sich um sozial Benachteiligte zu kümmern. Das ist eines wohlhabenden Landes wie der Schweiz oder des Kantons Bern unwürdig und widerspricht verfassungsmässigen Grundsätzen, wonach der Staat sich auch um sozial Schwache zu kümmern hat.

Die Kirchen und Caritas haben bereits ihre grosse Bestürzung darüber nach der ersten Lesung kundgetan. War dieser Appell wirkungslos?

Neben der Caritas und den Kirchen haben sich ja auch viele andere Institutionen und politische Parteien gegen die Kürzungsvorschläge ausgesprochen. In der Tat hält die Kantonsregierung aber standhaft an ihrer Position fest.
Im Gegenteil: Die Inhalte der verschiedenen Revisionsvorlagen – bei der hier diskutierten handelt es sich ja bereits um die dritte in den letzten drei Jahren – haben sich laufend verschärft. Bei der ersten Revisionsvorlage war noch von einer Kürzung des Grundbedarfs für ganz spezifische Personenkategorien die Rede, nun soll praktisch allen Sozialhilfebeziehenden der Grundbedarf um acht Prozent gekürzt werden.

Was ist nun die Strategie? Hat ein Referendum eine Chance? Werden sich die Kirchen und Caritas engagieren?

Aus einer armutspolitischen Perspektive ist klar, dass man sich gegen diese Kürzungen wehren muss. Das Referendum wurde von verschiedenen politischen Parteien ja bereits angekündigt, sollte das Referendum zustande kommen, wird sich Caritas Bern gegen das neue Gesetz engagieren.

Die Caritas arbeitet an der Front der von Armut betroffenen Menschen. Was lösen diese Sparübungen bei diesen aus?

Konkret haben die Leute weniger Geld für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung. Aktuell beträgt der Grundbedarf gemäss SKOS-Richtlinien 986 Franken pro Monat. Im Kanton Bern liegt dieser Betrag sogar noch etwas tiefer. Eine monatliche Kürzung von 80 oder 100 Franken bedeutet deshalb eine deutliche Verschlechterung der materiellen Situation der Betroffenen.
Die Kürzung wirkt sich aber auch negativ auf die soziale Teilhabe dieser Personen aus. Die Kürzung veranschaulicht letztlich auch eine fehlende Wertschätzung gegenüber den Betroffenen. Diese fühlen sich stigmatisiert und zunehmend aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Sozialhilfebezüger*innen stehen in der Schweiz unter Generalverdacht. Man muss sie mit Detektiven ausspähen, das Wort «Sozialschmarotzer» ist salonfähig.  Sie arbeiten mit solchen Menschen, was halten Sie davon?

Gemäss unserer Erfahrung gibt es nur ganz wenige Sozialhilfebeziehende, welche versuchen, das System auszunutzen. Gemäss der letzten verfügbaren Statistik des Kantons erfolgte im Jahre 2016 in weniger als einem Prozent aller Sozialhilfeunterstützungen eine Verdachtsmeldung durch einen Sozialdienst.
Oder anders ausgedrückt: 2016 wurde lediglich gegen 172 Personen bei einem total von fast 47 000 Sozialhilfebeziehenden ein entsprechender Verdacht geäussert. Diese Etikettierung wirkt somit stigmatisierend für die grosse Mehrheit der Sozialhilfebeziehenden, welche die Sozialhilfe lieber heute als morgen verlassen möchten.

Kardinal Schönborn, Erzbischof in Wien, hat jüngst die neue Regierung seines Landes kritisiert, sie solle nicht bei den Schwächsten sparen. Er steht da vollumfänglich auf der Seite der Caritas. Erfahren Sie in der Schweiz von offizieller Kirchenseite auch Unterstützung?

Als Caritas spüren wir hier eine sehr starke Übereinstimmung und Unterstützung. Gerade die katholische Kirche hat sich wiederholt gegen Kürzungen in der Sozialhilfe ausgesprochen. Die kirchlichen Sozialdienste bekommen unmittelbar mit, was es heisst, wenn Sozialhilfebeziehenden die Ansätze gekürzt werden, indem sie mehr und mehr Klienten zu betreuen haben. Die Verlagerung der sozialen Verantwortung vom Staat zu Privaten bekommen gerade die Kirchen zu spüren.

Was ist Ihre persönliche Haltung? Sie arbeiten mit dem Staat betreffend anerkannten Flüchtlingen eng zusammen. Schwindet ihr Vertrauen in die soziale Verantwortung des Staates?

Ich spüre keinen Vertrauensverlust, was unsere Zusammenarbeit mit den Fachabteilungen des Kantons anbelangt. Hier arbeiten wir sehr konstruktiv, sehr sachlich und zielorientiert zusammen. Es gibt aber eine politische Entwicklung, welche in eine andere Richtung geht. Der Wille zum Sparen nimmt zu, oftmals zu-lasten der sozial Schwächsten. Unsere solidarische Haltung als Staat, aber auch als Individuum, steht dabei auf dem Prüfstand.

Interview: Jürg Meienberg / Andreas Krummenacher

Hintergrund
Am Gründonnerstag, 29. März, wurde das umstrittene Sozialhilfegesetz im bernischen Grossen Rat verabschiedet. Bei der Schlussabstimmung wurde das revidierte Gesetz von SVP, FDP, BDP und EDU mit 79 zu 63 Stimmen bei 3 Enthaltungen angenommen. Einzelpersonen wird künftig der Grundbedarf um 8 Prozent unter die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) gekürzt. Diese bedauert denn auch den Entscheid. Mit diesem Vorgehen würden Probleme verlagert statt gelöst. Hintergrund der Kritik ist die Tatsache, dass rund ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden Kinder und Jugendliche sind. Grund dafür sind häufig Trennungen, Scheidungen, der Status der Alleinerziehenden. Ein weiterer grosser Personenkreis, der Sozialhife bezieht, sind Personen über 50, die ihre Stelle verloren haben.
Andreas Krummenacher

 

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