«Man weiss nicht, was es bedeutet, krank zu sein. Es bleibt abstrakt.»

09.08.2021

Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern. Von Marianne Kramer.

«Man weiss nicht, was es bedeutet, krank zu sein. Es bleibt abstrakt.»

So äussert sich eine Therapeutin gegenu?ber der erkrankten Verena Stefan in deren letztem Buch «Ein Riss im Stoff des Lebens». Mit beeindruckender Ehrlichkeit konkretisiert die in Kanada lebende Schweizer Autorin ihre Krankheitserfahrung. Die Leserin fu?hlt mit, wenn der Spielraum ihres bewegungsfreudigen Körpers schrumpft, die Eigenständigkeit zu wackeln beginnt und die Zuversicht ins Schleudern gerät.

Die kleinsten alltäglichen Handlungen fu?llen meine Zeit vollständig aus. Momentan spu?re ich den Schock nicht mehr. Ich bin voll und ganz mit den täglichen Verrichtungen beschäftigt, die notwendig sind, um so selbstständig wie möglich zu bleiben. (…) Ich weiss nicht, ob dieser kraftlose Körper an mir hängt, oder ich an ihm. Jede Bewegung hat sich reduziert auf eine Geste, und die Geste spielt sich im Schneckentempo ab. (….) Wie Menschen, die keine Entspannungs- und Atemtechniken gelernt haben, so etwas u?berstehen, war mir unbegreiflich. (…) Der Morgen war eine einzige Grossbaustelle. Zuerst war die Kopfmaske dran, dann ein MRT, gefolgt von einem CAT Scan. Ich wurde von einem Assistenten an den nächsten weitergereicht und in die nächste Maschine geschoben.

Ein Wochenend-Haus auf dem Land wird zu einem wichtigen Fluchtpunkt fu?r Verena Stefan. Während sie es in der Stadt schmerzlich vermisst, schnell zu sein, spontan losziehen zu können, am Geschehen teilzuhaben, fällt es ihr im Garten auf dem Land leichter, mit den fortschreitenden Einschränkungen zurechtzukommen.

Ich sitze auf der Erde. Das ist eine Tätigkeit. Ehrfurcht zu empfinden ist eine Tätigkeit. Die alten, hohen Birken sind getupft mit kleinen Blattknospen und einem Vorhang gelber Kätzchen. Es gibt nichts weiter zu tun, als Zeugin zu werden, wie sich meine Stimmung aufhellt. (…) Im Garten bin ich keine Patientin. (…) Heilung – oder im Grunde: lebendig sein – passiert, wenn ich voll und ganz da bin, wenn alles in mir und um mich herum lebendig ist. Wenn es gut genug ist, mit diesem Augenblick zufrieden zu sein. Wenn man dankbar ist, oder sogar glu?cklich. (…) Bewegungen geschehen von innen nach aussen, als wu?rde ich vorsichtig wie ein Vogel in der Morgensonne meine Flu?gel entfalten. Zärtlich versorge ich diesen, meinen sich allmählich auflösenden Körper.

Verena Stefan ist im November 2017 in Montreal gestorben.

Marianne Kramer, ref. Seelsorgerin


 Hinweis:
Verena Stefan, Ein Riss im Stoff des Lebens. Memoir.
Verlag Nagel & Kimche 2021. 240 S., Fr. 30.90

 

 

 

 

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