Frédéric Martel bei der Buchvorstellung in Paris.Foto: AP, Thibault Camus
Mehr Kaderfrauen in Rom
Der Soziologe Frédéric Martel beleuchtet in seinem neuen Buch das Thema Homosexualität und der Vatikan. Franz-Xaver Hiestand hat es gelesen.
Der französische Soziologe Frédéric Martel hat ein 600-seitiges Buch über Homosexualität im Vatikan veröffentlicht. Wer es erschüttert zur Seite legt, kann nur hoffen, dass die Frauen im Vatikan bald mehr zu sagen haben.
Von Franz-Xaver Hiestand SJ
Nach Martels Meinung erklärt die Homosexualität viele Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche der letzten Jahrzehnte. Ob es um die Verurteilung der künstlichen Empfängnisverhütung, das Festhalten am Pflichtzölibat, die jahrzehntelangen Angriffe auf die Befreiungstheologie oder die Verfehlungen der Vatikanbank geht; ob es um Vatileaks, den Amtsverzicht Benedikts XVI., die permanente Frauenfeindlichkeit oder die sexuellen Missbräuche geht, stets spiele die verleugnete Homosexualität oder Homophilie von kirchlichen Verantwortungsträgern eine entscheidende Rolle, schreibt Martel.
Wenn man einmal erfasst habe, dass das kirchliche Kader, welches sich in diesen Fragen durchsetzt, homosexuell ist, seine Homosexualität aber verleugnet oder unterdrückt, dann verstehe man die kirchlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte besser.
Eine deutliche Mehrheit der Männer im Vatikan ist gemäss Martel homosexuell. Je homophober sich einer äussere, umso höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst homosexuell ist. Ausserdem seien nicht wenige von ihnen erpressbar.
Diese Befunde sind für Beobachter*innen des Vatikans und der Kirche hierzulande nichts Neues. Der Mehrwert von Martels Fleissarbeit besteht erstens darin, dass er sehr viele Informationen zusammengetragen hat, welche bisher jeweils nur vor Ort bekannt waren. Vor allem in Europa, aber auch in Nord- und Lateinamerika und anderen Regionen hat Martel während vier Jahren recherchiert und dabei mit etwa 1500 Informanten gesprochen.
Zweitens fand er auch im Vatikan selbst viele Gesprächspartner. Diese äussern sich nicht nur vergleichsweise offen, sondern lassen sich auch namentlich nennen. Drittens zieht der Autor Verbindungslinien von katholischen, frankophonen, homophilen Literaten und Philosophen aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts wie François Mauriac und Jacques Maritain zu Papst Paul VI. bis in die Gegenwart. Und viertens breitet er einiges Material aus, das nahelegt, dass mehrere mächtige Exponenten des Vatikans unter Johannes Paul II., allen voran der frühere Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano und Kardinal Alfonso López Trujillo, engste Beziehungen mit rechtsgerichteten lateinamerikanischen Diktaturen pflegten, sich in der Öffentlichkeit homophob und in moralischen Fragen sehr orthodox äusserten, aber ein Doppelleben führten.
Bleibt die Frage, wie glaubwürdig Martel ist. – Nach eigenen Angaben weilte er in den letzten Jahren öfters in der Schweiz und sprach mit vielen Informant*innen. Einige von ihnen versieht er indes mit derart positiven Adjektiven, dass eine gewisse Fiebrigkeit des Autors nicht auszuschliessen ist. Und bisweilen entsteht der Eindruck, Martel sei vom Stoff dermassen besessen, dass er die Homosexualität der katholischen Kaderleute für den Schlüssel für alle Probleme der katholischen Kirche hält. Die Exzesse von López Trujillo werden aber auch von anderen Quellen bestätigt. Das spricht für Martels Seriösität.
Seine Zitierweise zeugt ebenfalls vom Bemühen, mit seinen Quellen redlich umzugehen. Und zahlreiche Informationen, die der französische Soziologe zusammengetragen hat, verdienen eine vertiefte Analyse. Wer künftig über den Vatikan schreibt, kann Martels Beitrag, der im Sommer auch auf Deutsch erscheint, nicht übergehen. Dass der Autor im Vatikan so viele offene Türen vorfand, deutet darauf hin, dass selbst viele vatikanische Exponenten genug haben vom Männerbündischen, von der Doppelmoral und den Lügen.
Ob sie einsehen, dass gleichberechtigte Frauen an ihrer Seite ihnen jetzt wesentlich helfen könnten? Mit Priesterinnen, Kardinälinnen und Generalsekretärinnen käme es am ehesten zu einer anderen Leitungskultur und zu nachhaltigen, positiven Veränderungen in der Kirche. Es ist überfällig, den Weg dahin einzuschlagen.
Hinweise:
Das Buch von Frédéric Martel wird im Sommer auf Deutsch erwartet, die französische und englische Versionen sind bereits erhältlich.
Französisch: Sodoma, Enquête au coeur du Vatican, Éditions Robert Laffont 2019, 638 Seiten, Fr. 41.90
Englisch: In the Closet of the Vatican. Power, Homosexuality, Hypocrisy, Bloomsbury 2019, 576 Seiten, Fr. 29.90