«Die Finanzwirtschaft braucht Reformen, und die Gesellschaft den Ausstieg aus patriarchaler Bevormundung.» Carola Meier Seethaler. Foto: Pia Neuenschwander

Mein Gottesbild veränderte sich

28.10.2015

Interview mit Carola Meier-Seethaler

Carola Meier-Seethaler, Philosophin, Ethikerin, Psychotherapeutin und Autorin, verbringt ihren Lebensabend in der Alterseinrichtung Egghölzli in Bern. Sie empfängt uns zumGespräch in ihrer kleinen, dezent eingerichteten Wohnung. 2006 trat die Ethikerin unter Protest aus der Nationalen Ethikkommission der Schweiz aus, weil «der Forschungsfreiheit gegenüber dem Schutz der Menschenwürde zu viel Raumgelassen wurde». Sie kritisierte damit deutlich die Konzession an die Forschungs- und Wirtschaftslobby. 2009 trat sie am Holocaust-Gedenktag wegen der Kirchenpolitik Benedikt XVI. aus der katholischen Kirche aus. Sie war damals 82. Sie hat sich ihr energisches, sorgfältig ethisches Nachdenken voll bewahrt.


«pfarrblatt»: Frau Meier-Seethaler, wie ist heute ihr Verhältnis zu Religion?

C. Meier-Seethaler: Albert Schweizer umreisst in seinen nachgelassenen Schriften für mich am besten mein Verhältnis zu Religion. Die globalen Herausforderungen der Gegenwart, so Schweizer, verlangen nach einer Ethik und einer Kultur der Nachhaltigkeit, die nicht nur die Lebensrechte künftiger Generationen, sondern auch diejenigen der Tiere und den Eigenwert der Natur achten. Zugleich muss eine zukunftsfähige Ethik dem Pluralismus der Kulturen und Religionen Rechnung tragen.
Ich stimme mit ihm überein. Ich bin A-theistin. Mit dieser trennenden Schreibweise grenze ich mich vom Anti-theismus ab. Das A richtet sich gegen die falsche Kirchenpolitik. Gott lässt sich, wenn überhaupt, nur mit einem Nichtbegriff umschreiben, mit dem, was er nicht ist.
Für mich hat Ethik Vorrang vor Religion. Doch gibt es in allen Religionen Handlungsanweisungen, die das mitmenschliche Verhalten in gute Bahnen lenken können. Darauf kommt es an und nicht auf die Vorstellung der ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits. Für mich gibt es kein Leben nach dem Tod. Sowohl in der Ethik als auch in der Religion muss es um das Hier und Jetzt gehen.

Sie sind ja 2009 aus der Röm.-kath. Kirche ausgetreten, warum?

Nun, der gute Ratzinger mit seiner Annäherung an die Pius-Brüder und den Holocostleugner Williamson, die bedauerlichen Tiefschläge gegen die Befreiungstheologie und die antijüdischen Tendenzen in der Liturgie brachten das Fass zum Überlaufen.
Wenn ein echter Befreiungstheologe Papst wird, könnte ich wieder eintreten.

Das ist demnach Papst Franziskus nicht?

Ich verfolge seine Handlungen, und die sind oft sympathisch. Aber er ist für mich kein echter Befreiungstheologe und als Dogmatiker viel zu konservativ.

Sie haben Ihren Austritt aus der Kirche auch dem Bischof kundgetan. Hat er damals reagiert?

Ja, das hat er. Er schrieb mir, er bedauere den Schritt, akzeptiere ihn aber. Sein Gottesbild und seine Meinung zur Kirchenpolitik unterscheiden sich natürlich von meiner. Er nahm zur Kenntnis, dass es nicht um das Sparen von Kirchensteuern ging. Ich habe immer soziale Projekte wie die «Prairie» oder voller Überzeugung das «Haus der Religionen» unterstützt und tue es noch.

Sie glauben nicht an ein Weiterleben nach dem Tod. War das immer so?

Ich bin traditionell katholisch aufgewachsen. Das hat mich natürlich wie alle geprägt. Erst mit 35 bis 40 Jahren hat sich mein Gottesbild verändert. Das Verhalten, das Umgehen miteinander hier und heute wurde wichtiger – deshalb bin ich auch keine prinzipielle Gegnerin der Kirchen, sondern unterstütze ihr soziales Engagement zu Gunsten der Schwachen und des friedlichen Miteinanders.
Aber, wie schon erwähnt, ethisches Handeln ist bedeutsamer als religiöse Glaubensinhalte, das wissen wir seit Kant.

Wie reagieren Sie auf die verschiedenen aktuellen Konflikte in der Welt, Ukraine, IS, Griechenland? Was gibt es da für ethische Orientierungspunkte?

Ich stehe voll zu Griechenland, auch wenn das nicht Mainstream ist. Die Banken geben dem Land nur Kredite, um es noch mehr auszubeuten. Dem Neokapitalismus geht es nur noch um Gewinn, er kennt keine ethischen Richtlinien mehr. Die Finanzwirtschaft braucht dringend Reformen und die Gesellschaft den Ausstieg aus patriarchaler Bevormundung.

Emanzipation der Frau und des Mannes sind für Sie wichtige Themen geblieben?

Es geht mir nicht in erster Linie um die Emanzipation der Frau in einem politisch-rechtlichen Sinn, sondern um eine psychische Emanzipation aus den Rollenverkrustungen, bei der die Emanzipationsleistung des Mannes ebenso gefordert ist.
Wir müssen die Wurzeln für die heutigen Geschlechterrollen und die unbewussten Motivationen für deren Aufrechterhaltung aufdecken.

Sie haben viel publiziert. Was ist für Sie Ihr wichtigstes Buch?

(Frau Meier-Seethaler steht auf und holt einen dicken Band aus ihren reich bestückten Bücherregalen). Ich habe 2011 mein Buch «Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie» aus dem Jahr 1988 überarbeitet. Grund dafür waren wissenschaftliche Fortschritte auf den Gebieten der Archäologie, Kulturgeschichte und Soziologie.
Jedes der vier Kapitel habe ich durch den Einbezug neuer Fakten bereichert, das letzte mit der kritischen Analyse der wirtschaftspolitischen und der religiös-moralischen Verwerfungen unserer Gegenwart.

Jetzt, im hohen Alter, kommt nicht ab und zu Heimweh auf nach einer Geborgenheit in der Religion?

Nein. Heimweh kommt eher auf nach all den bereits verstorbenen Kolleginnen und Kollegen und den früheren Grössen in der Geisteswissenschaft. Diese Anregungen fehlen mir. Wissen Sie, ich habe an freien Beerdigungen von Freunden teilgenommen und erlebt, wie tief empfunden und mit grosser Würde Abschied genommen wurde.
Ich habe meine Beerdigung in allen Details vorbereitet. Ich will keinen Pfarrer. Es gibt kaum mehr gehaltvolle Predigten. Kurt Marti war da ein grosses Vorbild. Ich will im Grab meines Mannes bestattet werden, und Freunde und Verwandte werden das Abschiedsritual halten.

Gibt es auch Gespräche hier im Haus?

Durchaus. Ich bin aber noch viel unterwegs, pflege mit Gleichgesinnten einen «Jour fixe» alle zwei Wochen. Da pflegen wir den Austausch über Gott und die Welt. Hier im Haus ist nach 18.00 nicht mehr viel los, ausser wenn Anlässe angeboten werden. Viele sitzen dann vor den Fernseher. Aber sehen Sie, selbst bei Arte werden vor guten Filmen kurze Vorschauen gezeigt, in der ersten wird erschossen, in der zweiten und dritten erstochen und erwürgt. Die ethische Abstumpfung in unserer TV-Gesellschaft ist beträchtlich und macht mir Angst.

Schreiben Sie heute noch?

Eben habe ich einen Artikel über die Geschichte der Prostitution geschrieben, der im Organ der Feministischen Wissenschaft Schweiz erschienen ist. Wenn mich mal wieder ein Thema packt, wird mein detektivischer Spürsinn geweckt. Soweit es meine Augen zulassen, bleibe ich dran.
 

Frau Meier-Seethaler, herzlichen Dank für das Gespräch. Interview: Jürg Meienberg

Die neue zVisite
Die interreligiöse Zeitung «zVisite» liegt in dieser Ausgabe in der Mitte bei. Das Thema lautet Alter und Religion. Das «zVisite»- Team verbrachte dafür zwei Tage in der multireligiösen Altersresidenz Egghölzli in Bern. Die «zVisite» erscheint zur «Woche-» und «Nacht der Religionen» vom 1.–8.11.