Benedikt wird Fehlverhalten in seiner Zeit als Erzbischof von München (1977–1982) vorgeworfen. (Aufnahme von 2020). Foto: kna
Missbrauch: Was wusste Ratzinger?
Missbrauchsbericht wirft Ratzinger Fehlverhalten vor.
Am Donnerstag wurde eine juristische Untersuchung zu Missbrauchsfällen im Erzbistum München präsentiert. Darin werfen die Anwälte dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Fehlverhalten in vier Fällen vor. Ratzinger bestreitet sein Fehlverhalten und macht teilweise Unkenntnis geltend. Am Montag korrigierte er jedoch eine seiner Aussagen.
In dem am Donnerstag veröffentlichten Bericht der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) heisst es, Joseph Ratzinger habe sich als Münchner Erzbischof (1977–1982) in vier Fällen fehlerhaft verhalten. Zudem bekundeten die Gutachter:innen erhebliche Zweifel an Aussagen von Benedikt XVI. zu einem besonders brisanten Fall eines Wiederholungstäters.
Bei der betreffenden Ordinariatskonferenz im Januar 1980 ging es darum, diesen Priester aus der Diözese Essen in München aufzunehmen. In seiner ersten Stellungnahme im Rahmen der Anhörung, die im WSW-Gutachten aufgenommen wurde, hatte Benedikt XVI. bestritten, an der Sitzung teilgenommen zu haben.
«Versehen bei redaktioneller Bearbeitung»
Vier Tage nach der Publikation korrigierte Benedikt am Montag diese Aussage: Er habe doch an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen, liess er mitteilen. Besprochen wurde damals die Aufnahme eines mutmasslichen Priester-Täters.
Der Fehler sei aber «nicht aus böser Absicht heraus geschehen», sondern «Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme». Dies tue ihm «sehr leid» und er bitte, dies zu entschuldigen.
Über mutmasslichen Täter wurde «nicht entschieden»
Allerdings sei in der betreffenden Sitzung «über einen seelsorgerlichen Einsatz des betreffenden Priesters nicht entschieden» worden. Vielmehr habe man lediglich der Bitte entsprochen, dem Mann «während seiner therapeutischen Behandlung in München Unterkunft zu ermöglichen». Wie es zu dem Versehen kam, will Benedikt XVI. in seiner «noch ausstehenden Stellungnahme» erklären.
Weitere Reaktion des Ex-Papstes folgt
Eine ausführliche Stellungnahme will der ehemalige Papst, der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München-Freising war, zu einem späterem Zeitpunkt abgeben, sagte sein Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein der katholischen Nachrichtenagentur CIC. Der 94-Jährige bitte um Verständnis, dass die vollständige Durchsicht des 1900 Seiten starken Gutachtens noch Zeit benötige. Die bisherige Lektüre der Ausführungen, so die Erklärung, erfülle ihn «mit Scham und Schmerz über das Leid», das den Opfern zugefügt worden ist.
Stellungnahme Ratzungers einsehbar
Im Rahmen der Untersuchung hatte Ratzinger eine persönliche Stellungnahme verfasst, in welcher er ein Fehlverhalten seinerseits in allen Fällen zurückweist. Die 80-seitige Stellungnahme ist mit seiner Einwilligung mit dem Gutachten veröffentlicht worden (ab S. 1277 im pdf). Diese sognannten Einlassungen bieten aus Sicht der Anwälte «einen authentischen Einblick» zur persönlichen Haltung eines herausgehobenen Kirchenvertreters zum Missbrauchsgeschehen.
Fragwürdiger Missbrauchsbegriff
So deckt die Stellungnahme Ratzingers beispielsweise auf, dass das Kirchenoberhaupt ein äusserst fragwürdiges Verständnis davon hat, was unter «sexuellem Missbrauch» zu verstehen ist. So schreibt Benedikt in seiner Stellungnahme: «Pfarrer (Name geschwärzt) ist als Exhibitionist aufgefallen, aber nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn». Die Tathandlungen hätten jeweils «im Entblössen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen» bestanden und «in der Vorname von Masturbationshandlungen, in dem Vorfall von (Name geschwärzt) auch im Zeigen von pornografischem Material. In keinem der Fälle kam es zu einer Berührung.» (WSW-Gutachten S.1323 im pdf)
Rechtsanwalt Pusch äusserte schon am Donnerstag Zweifel an der in einigen Fällen von Benedikt XVI. behaupteten Unkenntnis. Diese sei mit den aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen bisweilen «kaum in Einklang zu bringen». kna/sys
«Bilanz des Schreckens»
Vier Bände mit fast 1900 Seiten umfasst die Untersuchung zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising. Von «Totalversagen» eines Systems und einer «Bilanz des Schreckens» sprachen die Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, zumindest bis 2010. Die Gutachter:innen haben 235 mutmassliche Täter:innen von 1945 bis 2019 ermittelt. Davon seien 173 Priester gewesen, sagte Anwalt Martin Pusch am Donnerstag in München.
Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männlich, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. 67 Kleriker hätten laut Pusch aufgrund der «hohen Verdachtsdichte» aus Sicht der Anwält:innen eine kirchenrechtliche Sanktion verdient. In 43 Fällen sei jedoch eine solche unterblieben. 40 von ihnen seien weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, darunter auch 18 Priester nach einer strafrechtlichen Verurteilung eines weltlichen Gerichts.
Fehlverhalten wird unter anderen dem emeritierten Papst Benedikt XVI. und dem amtierenden Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, vorgworfen. Ob das Gutachten strafrechtliche Folgen hat, ist noch offen. Die Staatsanwaltschaft München I ist bereits mit der Prüfung von 42 Fällen befasst, in denen die Anwälte ein Fehlverhalten von Verantwortungsträgern festgestellt haben. kna