«Nach einem Erdbeben sammelt man sich um den Mais und bebaut zusammen ein Feld», sagt Andreas Hugentobler. Foto: Ruben Sprich

«Mission ist kein Folkloreabenteuer»

26.09.2022

Andreas Hugentobler war acht Jahre in El Salvador.

Der Theologe Andreas Hugentobler, 40, ist mit seiner Familie nach El Salvador ausgewandert. Acht Jahre hat er den Aufbau eines Netzwerks kirchlicher Basisgemeinden unterstützt. Seit letztem Mai ist er wieder in der Schweiz – ein Rückblick.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Sie waren bis 2013 als Pfarreiseelsorger und Jugendarbeiter in Biel tätig. Danach wollten Sie nach Lateinamerika. Warum?

Andreas Hugentobler: Meine Frau und ich haben uns dort während meines Theologiestudiums in der kirchlichen Basisarbeit kennengelernt. Nach sieben Jahren sanften Daseins als bi-nationales Paar in der Schweiz war uns klar, dass wir zurück in die Bildungsarbeit an der Basis wollten. Die Verbindung von Theologie und offenem, sozialpolitischem Kirchesein gibt uns Sinn. Der damalige Sekretär von «Fidei Donum», der Dienststelle für Missionsarbeit der Schweizer Bischofskonferenz, hat uns unkompliziert begleitet und das Finanzielle für unseren Einsatz geregelt.

Heute geht es darum, für die Schwächsten vor Ort dazusein.

Andreas Hugentobler
 

Auswandernden Theolog:innen wird nahegelegt, an einen Ort zu gehen, wo sie Land und Leute bereits kennen. In El Salvador konnten wir auf das familiäre Netz meiner Frau und auf Freundschaften aus der Studienzeit zurückgreifen. Das gab uns Schutz und Beheimatung. Wir lebten in der Stadt und arbeiteten am Stadtrand. Dort wurde ich auch allein immer als Familie, als Kollektiv, wahrgenommen. Das hat einiges einfacher gemacht und viele Zugänge geschaffen.

Als auswandernde Familie gehörten Sie bei «Fidei Donum» nicht zur Regel.

Mit unserem Paareinsatz als Ernährungsberaterin und Theologe des Bistums Basel gehörten wir in der Tat zu den grossen Ausnahmen. Die meisten Einsatzleistenden bei «Fidei Donum» sind Priester und Ordensleute zwischen 60 und 90 Jahren.

Der Begriff «Mission» ist heute oft negativ konnotiert…

Heute geht es längst nicht mehr um Glaubensverbreitung, sondern darum, für die schwächsten Menschen vor Ort da zu sein und zusammen Gemeinschaft, Bildung, Gesundheitsversorgung zu fördern und von ihrer Spiritualität zu lernen. Ich verstehe Mission als engagierte Präsenz und Teilnahme am Leben. In El Salvador haben wir die dortige Wirklichkeit aufgenommen, mit den Leuten gelebt und gemeinsam Wege gestaltet, um das Leben besser zu machen. Dabei lernten wir, Prozesse zyklisch und spiralförmig zu gestalten.


Gemeinsam haben wir Ressourcen für den Glauben und den Kampf für eine bessere Welt entdeckt. Wie es Leonardo Boff sagt: «Gott kommt vor dem Missionar». Genau darum geht es – zu entdecken, was es vor Ort an Göttlichem gibt, um von Ungerechtigkeit und Ausgrenzung zu befreien. Mission ist kein Folkloreabenteuer, sondern ein Auftrag. Diesen gilt es auch zu politisieren.

Was heisst das konkret?

Es geht es darum, nicht nur von den Armen sprechen, sondern sie auch hören. So standen wir in El Salvador nicht für die Armen ein, sondern für ihre Optionen. Das hat viele Dimensionen. Befreiungstheologisch wandert man heute als Missionar:in oder Fachperson nicht mehr aus, um den untersten Schichten etwas zu bringen. Stattdessen wird man mit den Leuten, die keinen Zugang zu Bildung hatten, Teil eines positiven Veränderungsprozesses. Die Wege dazu sucht man gemeinsam. Im zweiten Jahr waren wir so weit, nichts mehr «bringen» zu wollen.

Im zweiten Jahr waren wir so weit, nichts mehr «bringen» zu wollen.

Andreas Hugentobler

Statt Weiterbildungstreffen zu halten, waren wir viel unterwegs und bereit, wirklich in diese andere Welt einzutreten, mitzugehen, den Alltag zu teilen sowie die Menschen vor Ort selbst entscheiden und Bilanz ziehen zu lassen. Auf diese Weise sind viele Initiativen entstanden, die noch heute Bestand haben. So etwa in der Jugendarbeit, wo – trotz und mit kriminellen Mara-Jugendbanden – Musik gegen Gewalt und junge lokale Filmequipen entstanden, die über ihre Welt berichten.

Deckten sich Ihre Erwartungen mit der Realität?

Ich kannte El Salvador aus der Perspektive von Uni und NGOs. In den Basisgemeinden habe ich das Land aus der Weltsicht der untersten Schicht neu entdeckt. Ich habe gelernt, dass es sehr wichtige, unsichtbare kollektive Verknüpfungen gibt, die eine Gemeinschaft zusammenhalten, etwa Volkslieder und Magisch-Mystisches. Auch der Mais ist identitätsstiftend und als Widerstandssymbol wichtig. Nach einem Erdbeben etwa sammelt man sich um den Mais wie die Körner am Kolben und bebaut zusammen ein Feld. Kollektive Identität zu erkennen ist zentral, um gemeinsame Projekte für ein besseres Leben zu gestalten.


Ist El Salvador religiös gesehen exemplarisch für die Länder des Südens?

Ja. Etwa 20 bis 30% der Bevölkerung versteht sich als «Kirche der Armen», bei der die soziale Realität vor dem katholischen Dogma steht. Auf dem Monatsmarkt sieht man diese gelebte Ökumene der Praxis sehr gut. Für mindestens 50% der Salvadorianer:innen stehen dagegen gute Moral und materielle Güter als Erweis göttlichen Segens an erster Stelle. Diese ursprünglich von den USA propagierte Wohlstandstheologie gegen befreiungstheologische Aufbrüche hat heute pfingstkirchliche aber auch katholisch-klerikale Züge. Die letzten beiden Päpste sowie Opus Dei hatten da grossen Einfluss. In den letzten Jahren verstärkt nun der Franziskus-Effekt den im Volk verankerten Romero-Effekt.

Inwiefern?

Als Erzbischof setzte sich Oscar Romero während der Militärdiktatur für soziale Gerechtigkeit und politische Reformen in seinem Land ein und wurde 1980 am Altar erschossen. Noch am selben Abend sprachen ihn die Menschen auf der Strasse heilig, 2018 tat es Papst Franziskus dann auch. Noch bis vor wenigen Jahren verbot es der Erzbischof von San Salvador, in der Priesterausbildung über Romero zu sprechen und Romerolieder zu singen. Doch im Volk ist Romero bis heute ein Nationalheld und ein Symbol für Hoffnung und Widerstand gegen jede Art von Ungerechtigkeit, zum Beispiel auch für LGBTQ+. Trotz Gewalt kreative Wege zu suchen, ist besser als nichts zu tun.

Wenn man zu lange bleibt, macht man die Menschen von sich abhängig.

Andreas Hugentobler

Wie ist es, wieder in der Schweiz zu sein?

Ich habe viel Nostalgie. Gleichzeitig freue ich mich zu sehen, wie die Menschen dort nun an sich glauben und die Kohlen selbst aus dem Feuer holen. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit. Wenn man zu lange bleibt, macht man die Menschen von sich abhängig. Ob hier oder dort: Auch in der Schweiz müssen die kirchlichen Strukturen mit Leben – mit Visionen und Gemeinschaftssinn – gefüllt werden. Einen synodalen Weg zu gehen heisst, alles zu vernetzen, was da ist und es in lebensfördernde Richtungen zu lenken, statt einen Diskurs darüber zu verfolgen.