Mit Gott und der Welt nach Grindelwald

10.08.2024

Tourismusseelsorge im Pastoralraum Bern Oberland - zu Besuch in Grindelwald

Tourismusseelsorge gehört im Pastoralraum Bern Oberland fest dazu. Diese umfasst zusätzliche Gottesdienste in den touristisch geprägten Pfarreien und, über die Hochsaison hinaus, die Begleitung der Menschen vor Ort, die oft im Tourismus arbeiten. Ein Augenschein in Grindelwald – der Pastoralraumleiter, ein Kroate sowie ein Gastpriester erzählen.

Anouk Hiedl / Fotos: Pia Neuenschwander

«Endstation, bitte alle aussteigen!» Umgeben von Menschen aus allen Kontinenten bahnen wir uns einen Weg ins Freie. Auf dem Perron in Grindelwald wuseln Ferien- und Tagesgäste, viele mit grossen Rollkoffern oder bunten Rucksäcken. Während sich manche suchend umschauen, machen andere bereits erste Bergfotos und Selfies. Vorbei an Restaurants und Souvenirläden steuern wir die katholische Kirche an, die etwas abseits des Touristenrummels, eingebettet zwischen Chalets, steht.

Kaum da, biegt Pater Fritz Arnold um die Ecke. Der 80-Jährige aus Deutschland ist auf dem Sprung – er möchte wandern gehen. Seit Jahren hilft er im Sommer als Gastpriester aus und hält wenn möglich sonntags Gottesdienst in Grindelwald. Im Gegenzug darf er die Ferienwohnung neben der Kirche günstig nutzen und kann werktags Urlaub machen – eine Win-win-Situation für ihn und für das Seelsorgeteam, das in und um Interlaken zusammenarbeitet.

Auch Thomas Frey, der den Pastoralraum Bern Oberland leitet, ist heute vor Ort. Einmal pro Monat fährt er nach Grindelwald, Mürren, Wengen und Beatenberg. Er koordiniert die (Tourismus-)Seelsorge im grössten Pastoralraum des Kantons. Aufgrund der grossen Distanzen zwischen den Pfarreien bündelt er die Einsätze des Teams. In der Sommer- und Winterhochsaison helfen bis zu sieben pensionierte Gastpriester aus. «Nur so können auch wir in dieser Zeit Ferien machen», sagt er.

«Als frischgebackener Diakon hatte ich Respekt vor möglichen grossen Lebensfragen», gesteht er. «Doch die Menschen wollen vor allem erzählen. Da ist zuhören wichtig und manchmal auch, sie in ihren Gedanken zu bestätigen.» Im Gottesdienst erlebt Thomas Frey Feriengäste aus Asien meist als aufmerksam und aufrecht in ihren Gebetshaltungen. Westeuropäische Tourist:innen nähmen es lockerer, singen nicht immer mit und blieben auch mal sitzen. «Latinos» wiederum seien eher fromm und knieten oft. Egal woher, manche zeigten auch, dass sie es können. Je nach Resonanz gestaltet Thomas Frey die Messe in den touristischen Aussenstationen flexibler und freier als in Interlaken, kürzt die Predigt auch mal ab oder baut Lieder und Texte in den Sprachen der Anwesenden ein, die er gedruckt in jeder «seiner» Kirchen bereithält.

Die katholische Kirche hier sei wegen des Tourismus gebaut worden. Ein Grossteil der Diaspora in Grindelwald stammt aus Portugal, die zweitgrösste Gruppe aus Kroatien. «Die meisten arbeiten im Tourismus, im Gastgewerbe oder für die Bergbahnen», sagt Thomas Frey. Viele von ihnen, oft Familien mit Kindern, haben ihre Wurzeln verloren. Zu den Anliegen gehören Geldknappheit «oder die Frage, wo und wie sie Erstkommunion feiern sollen, hier oder in der Heimat».

Punkt 11.00 saust Sakristan Nikola Tomic auf seiner Vespa um die Ecke. Er erzählt, dass er als 18-Jähriger aus dem Kosovo nach Kroatien geflüchtet sei. «Ich hatte nichts, nicht einmal meine Dokumente.» Mit 24 Jahren kam er in die Schweiz, um eine besser bezahlte Arbeit zu suchen. Seine Frau war schwanger und ihr Onkel auf dem Jungfraujoch tätig. So fuhr Nikola Tomic mit ihr nach Grindelwald. Die vielen Berge rundherum hatte er so nicht erwartet. «Als es ‹Endstation› hiess, dachte ich, ich sei wirklich am Ende der Welt. Am liebsten wäre ich gleich umgekehrt.» Doch er beschloss, «es zu probieren». Gehen könne er später immer noch.

Rasch wurde Nikola Tomic zum Minimallohn als Allrounder in einem Hotel angestellt. Er lernte schnell und machte sich im Hausdienst und im Verkauf nützlich. Sein erstes Bad im Thunersee – ein Schock: «Eiskalt!», sagt er und lacht: «In Kroatien hatte ich das Meer um mich, hier ist es der Schnee.» 1997 wechselte er in die Küche des Grindelwaldner Hotelrestaurants «Spinne». Früher haben sich seine Mutter und die fünf Schwestern ums Essen gekümmert. «Ich konnte nicht einmal ein Ei kochen.» Auch hier wollte er «es probieren» und arbeitete sich zum Pizzaiolo hoch. Seit bald 30 Jahren macht er nun täglich bis zu 200 Pizzen für Feriengäste – und fühlt sich wohl. «Der erste Schritt war der schwierigste. Ich machte immer weiter, für meine Kinder, für meine Eltern, und erwartete nichts.» Auch sein Sohn arbeitet in der Hotelküche. Am Anfang habe er den Abwasch und Coupes gemacht, seit Corona werde er überall in der Küche eingesetzt. «Danke, Gott!», sagt Nikola Tomic mit Blick zum Himmel.

Der Kroate kommt oft in die Kirche. Für seinen sterbenskranken Vater betete er hier lang, bis ihn die automatische Türverriegelung aufschreckte. «Als ich überlegte, ob ich hier übernachten oder die Polizei rufen sollte, entdeckte ich den Türöffner.» Kurz darauf bot Nikola Tomic an, in der Kirche Grindelwald auszuhelfen. Lohn lehnte er ab, er sei so erzogen worden. Maria sei für ihn alles. «Sie ist mein Schutz. Bei Problemen spreche ich mit ihr, und wenn ich herkomme, umarme ich sie, wie meine Mama.» Sakristan zu sein, sei wie ein Sechser im Lotto. So könne er sich dafür bedanken, dass er heute alles habe, was er im Leben brauche.

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