Mit Psalmen schreien, beten und staunen

16.11.2023

Für Sie gelesen. Tipps aus der Buchhandlung voirol

Für Sie gelesen. Tipp aus der ökumenischen Buchhandlung voirol

Die Autorin ist als Ordensschwester mit den Psalmen vertraut. Am Anfang ihres Schreibens war eine Not. Sie hat sexualisierte und spiritualisierte Gewalt erlebt. Ihre Verzweiflung spiegelte sich in den Worten der Psalmen wider. Im Schreiben öffnete sich eine neue Welt: «Ich konnte wieder mit Gott sprechen, ihr von meiner Not erzählen, ihm meine tiefsten Gedanken ans Herz legen. Meine Worte sind die Worte von einst, die vor Tausenden von Jahren gebildet wurden. In Zeiten der Stille, der Anbetung und Meditation bin ich immer wieder in diese Welt eingetaucht, die sich mit geöffnet hatte. Es entstanden Worte und Texte formten sich. Für mich war es ein Weg, heiler zu werden. Ich sehnte mich nach sprachlicher Weite und bemerkte immer mehr, dass die Psalmen jetzt gefärbt wurden von meinen eigenen Erfahrungen und Gefühlen.»

So sind 84 Psalmen entstanden, welche im Aufbau, der Länge, Themenwahl und Anzahl der Verse dem Original entsprechen. Die Sprache ist jedoch offener, das Gottesbild nicht auf den maskulin klingenden «Herr» beschränkt. Das Meditieren ermöglicht einen neuen Zugang zu den Psalmen und damit zu Gott. Beginn von Psalm 22:

2 Meine Ewige Liebe, mein Leben, warum hast Du mich alleingelassen, warum bin ich immer noch so weit weg davon, heil zu sein, warum muss ich so laut schreien, bis ich nicht mehr kann?
3 Meine Ewige Liebe, ich rufe, wenn es hell ist, und höre nichts von Dir, und auch dann, wenn die Dunkelheit über mich hereinbricht, komme ich nicht zur Ruhe.
4 Du bist ganz anders, als ich es mir ausdenken kann; egal, wie viel wir Dich bejubeln, Du bist selbst die Freiheit.
5 Alle, die bisher waren, haben Dir vertraut, und Du warst mit Ihnen und hast ihr Heilsein bewirkt.

Sophia Weixler: Ich atme Hoffnung. Psalmen jenseits von Gewalt und Missbrauch. Patmos 2023, 160 Seiten, Fr. 27.90

Der Autor ist Astrophysiker. Die moderne Astronomie beschert eine überwältigende Fülle neuer Erkenntnisse. In der wissenschaftlichen Arbeit hat das Staunen keinen Platz. Aber bei einer zweiten Betrachtung des Universums kommen andere, existentielle Erfahrungen in den Blick. Der Autor ahnt ein Universum als Ganzes und vermutet ein «Darüberhinaus». Die Sprache wird metaphorisch. In den hier versammelten Texten soll die alte literarische Gattung der Psalmen anklingen. Viele äusserliche Merkmale und historisch-kulturelle Umstände unterscheiden die astronomischen Psalmen von ihren hebräischen Vorgängern. Die astronomischen Psalmen zielen darauf ab, die heutige, von der Wissenschaft erzählte Geschichte des Universums zu erweitern um die im Glauben begründete Reaktion eines Zeitgenossen.

Das Universum begann im Urknall. Eine habe Trillion Sekunden sind seither durch das Universum getickt. Woher diese Sekunden? Die Physik kenn ihren Ursprung nicht. Zeit, ein Grundstein der Wirklichkeit, kann nicht erklärt werden. Weitere Sekunden werden folgen. Das scheint selbstverständlich.
Eine dieser Sekunden wird meine letzte sein. Lebenszeit ist nicht selbstverständlich. Sie hat Anfang und Ende. Jede Lebenssekunde ist ein Geschenk; ich kann sie bewusst empfangen oder verdämmern, verschleudern.
Danke ewiger Gott, für die 2,4 Milliarden Sekunden, die du mir schon geschenkt hast.

Arnold Benz: Unfassbar verschwenderisch. Astronomische Psalmen. TVZ 2023, 95 Seiten, Fr. 22.-

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