Der Solothurner Mundart-Schriftsteller Ernst Burren in seinem Schreibzimmer. Foto: Tomas Wüthrich, 13Photo
Mundartkünstler Ernst Burren wird 80
Der Solothurner Ernst Burren, einer der wichtigsten Mundartautoren des alemannischen Sprachraums, feiert am 20. November seinen 80. Geburtstag. Eine Hommage.
Beatrice Eichmann-Leutenegger
Wie oft höckelte der Knabe in einem Winkel der Gaststube, sass vielleicht sogar unter einem Tisch und hörte den Gesprächen der Gäste zu … «Ernstli, wo steckst du bloss?», rief eine der älteren Schwestern, und der Knabe musste sein Versteck verlassen, den Kopf voller Geschichten, die das Dorf bewegten.
Ein wahrer Fundus hatte sich seit frühen Tagen in diesem erweiterten Wohnzimmer, der Gaststube nämlich, angesammelt, bis Ernst Burren 1970 sein erstes Buch «derfür und derwider» veröffentlichte. Die Keimsituation – der heimlich lauschende Knabe – gleicht jener, die der Obwaldner Autor Julian Dillier (1922–2001) als Ausgangspunkt für seine autobiografische Erzählung «Frau Bartsch» (1986) gewählt hat: Dillier liess die Kindheitserinnerungen aufleben, als er einst im Lebensmittelgeschäft den Gesprächen der Kundinnen von Frau Bartsch zugehört hatte.
Sowohl in seinen wie auch in Ernst Burrens Texten erzeugt diese frühkindliche Erfahrung eine staunenswerte Lebens- und Menschennähe, als ob die späteren Autoren damals nicht nur zugehört, sondern in die Seele der Sprechenden geblickt hätten.
Nach der Lektüre von Burrens ersten Büchern stellte sich bei mir ein amüsanter Effekt ein. Jedes Mal, wenn ich im Zug oder Bus sass, glaubte ich, eine der Figuren aus der Burren-Welt sprechen zu hören. Da plauderte eine Frau, dort brummte ein Mann vor sich hin, zwei andere versuchten sich in Meinungen zum kleinen und grossen Geschehen, grübelten über Verpasstes, sprachen von ihren Wünschen, wie sie sich in Burrens Buchtiteln verraten: «No einisch uf d Maledive». Und warum nicht «Chrüzfahrte», wenn man ein Leben lang geschuftet hat?
Auch «Dr Troum vo Paris» lässt sich nicht vertreiben, wenn man am Fuss des Weissensteins, fast schon im Westen der Schweiz, lebt. Im solothurnischen Oberdorf wurde Ernst Burren am 20. November 1944 geboren, ein halbes Jahr vor Kriegsende. Keine heile Welt empfing ihn, sondern eine überall lauernde Angst. Vier ältere Schwestern begrüssten den Nachzügler, der sich wie Otto F. Walter einer weiblichen Hausmacht gegenübersah. Die Eltern führten eine Gastwirtschaft, den «Sternen». Oberdorf nährte Ernst Burrens Fantasie, und hier blieb er auch nach seiner Pensionierung 2003, nachdem er als Primarlehrer in Etziken und Bettlach gewirkt hatte. Bedeutet diese Enge eine thematische Verarmung? So mag man den Autor fragen.
«Zwar bin ich durchaus gereist, war etwa in China, Äthiopien, Brasilien, den USA (…), aber eigentlich kann ich alles, was mich interessiert – Kinder, Erwachsene von der Geburt bis zum Tod –, genauso gut auch im Dorf oder sogar an meiner Strasse erleben.»
Er schreibt nicht idyllische Heimatliteratur, denn früh hat er die unter der Oberfläche lauernde Dramatik entdeckt. Seiner Erzählung mit dem harmlosen Titel «Begonie und Schtifmüetterli» setzt er eine Aussage Anton Tschechows voran, jenes Dichters, den er seit Langem schätzt:
«In Wirklichkeit waren das ganze Leben und die menschlichen Beziehungen so kompliziert und so unverständlich, dass einem, dachte man darüber nach, angst wurde und der Puls stockte.»
So kann es geschehen, dass bei Ernst Burren in biederer Stille Menschen umgebracht werden, Familien vor lauter Hader zerfallen oder eine Frau mit einer Überdosis Tabletten das Leben hinter sich lässt.
Ernst Burren, der das Konkrete hochhält, entfaltet das menschliche Drama in seinen Gedichten, Geschichten und Theaterstücken genau, aber nicht mit Schärfe oder Bitterkeit. Ja, man darf von Empathie, sogar von Barmherzigkeit sprechen, und daher ist Burren mehr als blosser Chronist.
Der sanfte Mann, als Knabe scheu und kindlich versonnen, hat diese Züge als Erwachsener nicht eingebüsst. Seine vielfach mit Preisen ausgezeichneten Texte aus dem Alltagsleben (insgesamt über 30 Titel) mögen auf den ersten Blick banale Szenen entwerfen: «Nume no vor em Färnseh» sind die 2022 erschienenen Mundartgeschichten betitelt. Aber unter dem Filz der Gewöhnlichkeit ahnt man Trauer, Alterseinsamkeit, verlorene Lebensträume.
Dieses zuletzt publizierte Buch greift die Isolationsgefühle während der Corona-Zeit auf, spricht vom Suchtverhalten, von Partnerschaftsproblemen, den Ängsten älterer Menschen angesichts des nahen Todes oder dem Schrecken Jüngerer über ein unerwartet frühes Ableben. Da werden die Fragen drängender:
«… d frou het gseit wenns e gott gubti wo für grächtigkeit für us mönsche würdi sorge wär so ne truurige tod nit möglich …»
Der Autor weiss nicht mehr als seine Textgestalten. Wie sie harrt er in der Antwortlosigkeit aus und sucht nach Deutungen des Unverständlichen. Ernst Burren übt Solidarität mit seinen Gestalten: schlicht, unaufgeregt und niemals einen Stein werfend.
Ernst Burrens Bücher erscheinen seit 2003 im Cosmos-Verlag, Muri b. Bern. Die früheren Titel publizierte der Zytglogge-Verlag.