Nach dem 7. Oktober: Interreligiöser Dialog ohne Tabus

Wo steht der interreligiöse Dialog ein Jahr nach dem 7. Oktober? Dieser Frage ging ein Podium an der Universität Luzern nach. Dabei wurde deutlich: Der interreligiöse Dialog ist wichtig, wenn er ohne Tabus geführt wird.

 

Text und Foto: Sylvia Stam

«Wir können etwas dagegen tun», sagt Amir Dziri, Direktor des Zentrums für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg und Muslim tunesischer Herkunft. Er spricht von der «starken Lähmung und Überforderung», die muslimische Menschen hierzulande nach dem 7. Oktober und dem darauf folgenden Gazakrieg befallen habe. Nicht selten würden sie dem Dunstkreis der Täterschaft zugerechnet, wie Dziri aus eigener Erfahrung weiss. Um aus der Lähmung herauszukommen, «müssen wir proaktiv Kontakt zu Juden und Palästinensern suchen, in den Austausch gehen, zuhören und gelten lassen», sagte Dziri.

Ob Begegnung demnach wichtiger sei als Bildung, fragt Moderator Christian Rutishauser, der mit diesem Podium erstmals öffentlich als neuer Professor für Judaistik und Leiter des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung an der Uni Luzern in Erscheinung trat. Dziri bejaht: Seine Versuche, über einen Blog oder Newsletter etwas zu bewegen, seien gescheitert. Die starke emotionale Aufwallung sei nur durch direkte Begegnung zu lösen. «Es braucht Menschen beider Seiten, die zeigen, wie wichtig sie einander sind.»

Rote Linien und Schmerzgrenzen

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, bestätigte dies indirekt durch die Schilderung sehr persönlicher Erfahrungen. Seit dem 7. Oktober hätten sich die roten Linien und Schmerzgrenzen verschoben. Dadurch sei der interreligiöse Dialog schwieriger geworden. Er selbst sei beinahe aus einer interreligiösen Vereinigung ausgetreten. Kreutner meint damit den Konflikt rund um die Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin, Präsidentin der interreligiösen Arbeitsgemeinschaft Iras Cotis, in deren Vorstand auch Kreutner sitzt. Lenzin war gleichzeitig Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina, die nach den Terroranschlägen der Hamas mehrmals umstrittene Stellungnahmen publizierte.

«Meine persönliche Schmerzgrenze hatte sich nach dem 7. Oktober verschoben», so Kreutner. Es sei ein Kopfentscheid gewesen, letztlich doch nicht auszutreten und den Dialog über die eigenen Verletzungen zu stellen. «Im Nachhinein war das vielleicht die richtige Entscheidung.»

Heilsamer Blick des muslimischen Vertreters

Nach dem Attentat auf einen orthodoxen Juden im März durch einen Jugendlichen mit tunesischen Wurzeln nahm Kreutner an einem interreligiösen Gedenkanlass auf dem Lindenplatz in Zürich teil. Er habe Gewissensbisse gehabt, ob er da überhaupt hingehen könne: «Ist das der richtige Moment für interreligiösen Dialog?», fragte er sich. In dieser Situation habe ihm ein wortloser Blick von Önder Günes, Präsident der Föderation islamischer Dachorganisationen, gut getan. «Es war heilsam zu realisieren, dass er in diesem Moment wohl das gleiche empfand wie ich», sagt Kreutner.

Probleme ansprechen

Die Beispiele zeigen, wie wichtig interreligiöse Begegnungen sind, obschon sie mitunter als Schönwetter-Begegnungen abgetan werden. Hier ist für Kreutner Entwicklung nötig: «Oft versucht man im interreligiösen Dialog, die Tabus beiseite zu schieben. Doch man muss die Probleme aussprechen, ohne die anderen zu verletzen und ohne Pauschalurteile.» Nur mit einer solchen Offenheit habe der interreligiöse Dialog auch in Zukunft eine Chance.

Auch Dziri glaubt an die Kraft der interreligiösen Gremien und bricht eine Lanze für alle, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzten. Sorge bereitet ihm die schnelle Radikalisierung von Jugendlichen auf Social Media. Dagegen hätten Bildungsinstitutionen keine Chance. Auch auf der Ebene der muslimischen Gemeinden sieht er Entwicklungspotenzial. «Hier braucht es mehr Formate, in denen Muslim:innen, Jüdinnen und Juden einander begegnen können.» Das Wissen über die jeweils anderen sei oft sehr abstrakt.

Komplexität differenziert betrachten

Im Bereich der muslimischen Ethik brauche es mehr Effort, um muslimischen Antisemitismus wahrzunehmen. Die Shoa werde weitgehend als europäische Gräueltat angesehen. Judenverfolgungen habe es jedoch auch in der arabischen Welt gegeben. Ebenso wünscht sich Dziri mehr starke muslimische Stimmen, die jeglicher Gewalt, etwa in Form von Selbstmordattentaten, klar die Legitimation absprechen.

Kreutner wünscht sich für die Zukunft, «dass man versteht, dass dieser Konflikt nicht nur im Nahen Osten geschieht, sondern ein christlich-jüdisch-muslimischer Komplex ist», den man mit Selbstkritik reflektieren und dann aufeinander zugehen müsse. Er knüpft damit an das Eingangsstatement von Karma Ben-Johanan an. Die Professorin für jüdisch-christliche Beziehungen an der Hebräischen Universität Jerusalem äusserte zu Beginn der Veranstaltung via Zoom ihre Sorge, dass dieser Konflikt zu wenig in seiner Komplexität wahrgenommen werde. Sie stellt vielmehr einen Rückfall in ein vereinfachendes Schwarz-Weiss-Denken fest.

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Hier geht es zum Interview.