Genügsamkeit, genug haben, das richtige Mass finden - das ist Suffizienz. Foto: unsplash

«Nachhaltigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe»

Das «Netzwerk Nachhaltigkeit» der katholischen Kirche und DOCK8 stellen 2025 das Thema Nachhaltigkeit / Suffizienz ins Zentrum. Ein Gespräch mit der Suffizienz-Forscherin Annette Jenny


Zoe Lehmann*

Wie sind Sie selbst an das Thema Suffizienz gelangt und was begeistert Sie daran?

Annette Jenny**: Vor rund 15 Jahren. Ich war damals noch in einem privaten Beratungs- und Forschungsbüro tätig und wir hatten eine Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich, die diesen Ansatz stärker verankert wollte. Als mich damit zu beschäftigen begann, war mir dessen Relevanz sofort bewusst – ohne Suffizienz werden wir unsere Klima- und Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen. Zudem fasziniert mich Suffizienz, weil es eine Alternative bietet zum vorherrschenden Paradigma des «immer mehr» in unserem auf Wachstum und Konsum ausgelegtem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. 

Wie definieren Sie Suffizienz?

Jenny: Umgangssprachlich: Genügsamkeit, genug haben, das richtige Mass finden. Etwas komplizierter ausgedrückt: Suffizienz ist eine Reduktionsstrategie, die darauf abzielt, die Produktion und den Konsum von ressourcenintensiven Gütern und Dienstleistungen absolut zu verringern. Einige Definitionen von Suffizienz definieren auch minimale und maximale Schwellenwerte für den Verbrauch, die darauf abzielen, Grundbedürfnisse zu gewährleisten und Überkonsum einzudämmen. 

Besonders wichtig es für mich zu betonen, dass Suffizienz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die durch griffige politische Massnahmen begleitet und begünstigt werden muss und die nicht allein dem Individuum überlassen werden darf. Ebenso wichtig zu betonen erscheint mir der Aspekt des guten Lebens. 

Suffizienz ist nicht einfach eine Verzichtsstrategie, sondern eine Strategie, die dabei unterstützt, Wohlbefinden unabhängiger von einem hohen Ressourcenverbrauch zu gestalten. 

Was muss man sich unter Suffizienzforschung vorstellen? 

Jenny: Die Suffizienzforschung beschäftigt sich mit diversen Aspekten der Suffizienz wie suffizienten Lebensstilen, Suffizienzpolitik, suffizienzorientierten Geschäftsmodellen oder der Berechnung von Suffizienzpotenzialen. 

Meine Wurzeln liegen in der Sozialpsychologie. Der Startpunkt war für mich vor allem die Verknüpfung mit dem guten Leben. Was mich interessierte war die Verbindung von Konsum und Wohlbefinden. Was macht Wohlbefinden aus und wie kann es mit Suffizienz verbunden werden? 

Macht Konsum tatsächlich glücklich, wie es die Werbung immer suggeriert? Welche Erkenntnisse gibt es dazu aus der Forschung? 

Mittlerweile gibt es viele Studien, die belegen, dass Menschen, die einem starken Konsumzwang unterliegen, ein tieferes Wohlbefinden haben. Während andere Studien belegen, dass Suffizienz mit einem guten Wohlbefinden kompatibel ist. Die gute Nachricht ist darum: Zufriedenheit ist auch ohne hohen Konsum und riesigem ökologischen Fussabdruck möglich. Vorausgesetzt, unsere Grundbedürfnisse wie beispielsweise Gesundheit, Sicherheit oder soziale Kontakte werden befriedigt.

Einige Beispiele dazu: So können viele Menschen, die in autofreien Gebieten wohnen, es sich schnell gar nicht mehr vorstellen, anders zu leben. Weniger Kaufen und Besitzen kann Entlastung und mehr Freiraum bedeuten. Mehr Teilen statt Besitzen kann soziale Kontakte stärken.
 


In einer Studie haben Sie untersucht, wie ausgeprägt die Akzeptanz von Suffizienzpolitik ist und welche Rahmbedingungen von der Bevölkerung als notwendig erachtet werden, damit systemisch verortete Suffizienzmassnahmen besser akzeptiert werden…

Jenny: Ja, wir haben untersucht, was die Schweizer Bevölkerung von Politikmassnahmen für Suffizienz hält, wie etwa Verringerung von Werbung, Stärkung von Velo- und Fussverkehr, Erhöhung von Fleischpreisen und weiteren Massnahmen. Dazu haben wir eine schweizweite Umfrage sowie Interviews mit Personen aus unterschiedlichen Einkommensgruppen durchgeführt. 

Fazit: Suffizienzpolitikmassnahmen sind kein so grosses Tabu, wie oft angenommen wird. Sie haben einen recht starken Rückhalt in der Bevölkerung, sofern sie so gestaltet sind, dass nicht nur einzelne betroffen sind oder profitieren, Kompensationen für Niedrigverdienende gewährleistet sind sowie die Relevanz für das Klima nachvollziehbar ist. 

Konkret kann Akzeptanz auch durch Pilotprojekte erhöht werden, welche wir auch von Forschungsseite begleiten. Sie kommen beispielsweise in der Zusammenarbeit mit Gemeinden zum Zug. Pilotversuche sind ein gutes Mittel, um die Akzeptanz verschiedener Massnahmen innerhalb der Bevölkerung zu testen. Bevor eine Massnahme fix eingeführt wird, kann sie pilotiert, evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden. So fühlt sich die Bevölkerung abgeholt, was die Akzeptanz dieser Massnahme stark erhöht. 

Auf diese Weise wurde vor über 10 Jahren mit der Einführung der 30-er Zone verfahren. In Basel läuft zurzeit ein Pilotversuch mit Superblocks, das sind Quartierteile, aus denen der Autoverkehr komplett verbannt wird. In Zürich wurde Ähnliches mit dem Pilotprojekt «BringsufdStrass» durchgeführt. 
 

 


Inwiefern werden solche Forschungsergebnisse von politischen Akteur:innen nachgefragt? 

Jenny: Zu diesem Zweck führen wir beispielsweise Informationsveranstaltungen durch, an die wir Vertreter:innen aus Politik und Verwaltung einladen. Diese dienen dem Informationstransfer, hier werden Forschungsergebnisse präsentiert und weitergegeben. 

Der Austausch und die Zusammenarbeit mit Gemeindevertreter:innen ist mittlerweile recht gut. So arbeitet unsere Fachhochschule auch gezielt mit Gemeinden zusammen und unterstützt sie bei der Umsetzung und Evaluation von Suffizienzmassnahmen. Mit den Bundesämtern ist die Zusammenarbeit weniger ausgeprägt. Dort ist der Suffizienzansatz weniger präsent – was auch mit der politischen Ausrichtung der politischen Entscheidungsträger:innen zusammenhängt. 

Obwohl Suffizienz als dritte Nachhaltigkeitsstrategie neben Effizienz und Konsistenz (Einsatz erneuerbarer Ressourcen) längst bekannt ist, findet der Begriff nicht immer Eingang in Strategiepapiere. So wird der Begriff bspw. weder in der Energiestrategie noch in der Gesamtmobilitätsstrategie des Kantons Bern verwendet. Ist der Begriff zu ungenau oder woran liegt das?

Jenny: Das Konzept ist noch nicht allen politischen Akteur:innen und Regierungsvertreter:innen bekannt, auf der Verwaltungsebene wird er aber durchaus verwendet, auch wenn manchmal andere Begriffe dafür verwendet werden, wie etwa «Vermeiden von Verkehr». In einigen städtischen Strategien (z.B. Basel, Zürich) ist das Prinzip der Suffizienz längst verankert. 

Auch wenn es wichtig ist, dass das Konzept in Strategien berücksichtigt wird, ist es umso wichtiger, wie ambitioniert dann Massnahmen für die Suffizienz formuliert und umgesetzt werden. Nehmen wir beispielsweise den Verkehr: Da ist es einfach, die Vermeidung des MIV (motorisierter Individualverkehr) zum Strategieziel zu setzen. 

Geht es aber konkret darum, Parkplätze und Autospuren abzubauen oder Innenstädte autofrei zu machen, wird es oft schwierig. Es braucht also alle Schritte: eine Verankerung der Suffizienz als politisches Prinzip, als Zielsetzung und als konkrete Massnahmen.    

Sehen Sie es als Aufgabe der Forschung, Markt-und politische Akteur:innen zu Suffizienz zu ermutigen?

Jenny: Als Fachhochschule arbeiten wir anwendungsorientiert, d.h. unsere Forschung soll konkret zu Lösungen beitragen. Die Zusammenarbeit mit Akteuren in der Praxis ist dabei unabdingbar. Wir können diese durch Fachwissen unterstützen, aber auch bei der Konzeption, Umsetzung und wissenschaftlichen Begleitung von Massnahmen. 

Und gerade im Suffizienzbereich tut sich einiges in der Forschung: es gibt beispielsweise immer mehr Erkenntnisse zu den Potenzialen von Suffizienz oder zur Wirksamkeit von Suffizienzansätzen. Es ist wichtig, dass hier ein Transfer von Forschung zu Praxis stattfindet.  


*Zoe Lehmann ist Kommunikationsverantwortliche des Netzwerk Nachhaltigkeit DOCK 8
** Dr. Annette Jenny ist Dozentin und Mitglied der Forschungsgruppe «Nachhaltigkeitskommunikation und Umweltbildung» an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.

 

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