Komplexes Zusammenleben von Minderheiten – die Schweiz. Foto: jba / photocase.de
Nein zu «Switzerland First»
Standpunkt zur Selbstbestimmungsinitiative
Standpunkt zur Abstimmung über die Selbstbestimmungsinitiative vom 25. November
Die Bundesverfassung soll künftig «oberste Rechtquelle» sein. Völkerrechtliche Verpflichtungen werden ihr untergeordnet oder nötigenfalls gekündigt. Dies fordert die Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», die unter der Etikette «Selbstbestimmungsinitiative» (SBI) am 25. November an die Urne kommt. Auch wenn die Initianten – allen voran die SVP – gewissen zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts einen Vorbehalt einräumen, so bedeutet die SBI nichts weniger als ein «Switzerland First» in der Rechtsprechung.
Europaweit steht die SVP nicht alleine da. Im Gegenteil: Ähnliche Forderungen erschallen auch aus Österreich, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Polen oder Ungarn. Doch all die Parteien, die dies fordern, sägen damit an der in den letzten 70 Jahren gemeinsam aufgebauten Stabilität Europas. Wer das eigene Landesrecht über das internationale Recht stellt, gefährdet den Dialog, das Austarieren, die Einbettung in ein grösseres Ganzes.
Dabei waren und sind die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 und die Einrichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg wichtige Meilensteine: Wer sich vom eigenen Land ungerecht behandelt fühlt, kann sich an die europäische Rechtsprechung richten. Die EMRK dient als Rückversicherung unserer Grundrechte. Mit einem Ja zur SBI ginge das nicht mehr. Und mit einem Ja erhielte immer die Mehrheit Recht.
Gerade die jüdische Minderheit kann in der Schweiz auf eine lange und leidige Erfahrung zurückschauen. Dass der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) dieser Tage den Minderheitenschutz als wichtiges Argument für seine Ablehnung der SBI hervorstreicht, hat historische Gründe. Obschon die jüdische Minderheit in der Schweiz in den Nazijahren keinen Rassengesetzen und Konzentrationslagern ausgesetzt war, herrschte auch hierzulande ein raues antisemitisches Klima. Der Nährboden für Lügen wie den «Judeo-Bolschewismus» und das «Streben nach der Weltherrschaft» war fruchtbar, Hetzschriften wie «Der internationale Jude» und «Die Protokolle der Weise von Zion» fanden auch in der Schweiz reissenden Absatz. Die Kirchen trugen ihren Teil zum tradierten Judenhass bei, und die Eidgenössische Fremdenpolizei fühlte sich dem Kampf gegen eine «Verjudung» der Schweiz verpflichtet.
Ein starker Schutz des Einzelnen und der Minderheiten ist jedoch erst recht Ausdruck einer echten Demokratie. Es war ein langer Weg, der Redefreiheit hier gewisse Schranken aufzuerlegen. «Wer zulässt, dass demokratische Staatswesen durch subversive Agitation, Verbreitung von Hass und krassen Lügen ungestraft unterhöhlt werden, ist ein Totengräber der Demokratie», sagte 1966 der Berner Anwalt und SIG-Präsident Georges Brunschvig rückblickend auf die NS-Jahre. Er hatte bereits seit den 30er Jahren einen Gesetzesentwurf zur «Kollektiv-Ehrverletzung» erarbeitet, einem Vorläufer des Anti-Rassismusgesetzes (ARG), das erst 1995 dank dem Einfluss der EMRK in Kraft trat. Nur in der SVP fehlt die Einsicht, dass dieser Schutz vor Aufhetzung die Meinungsfreiheit schützt und stärkt. Lieber spricht die Volkspartei vom «Maulkorb».
Rund ein halbes Jahrhundert nach dem Beitritt wollen die SBI-Initianten der EMRK den Rücken zukehren. Ihr Ziel: Angenommene SVP-Initiativen, die Diskriminierungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen in der Bundesverfassung festschreiben würden, könnten nicht länger angefochten werden. Mit einem «Switzerland First» in der Rechtssprechung wären die international verbrieften Grundrechte und der Schutz vor staatlichen Übergriffen Makulatur. Der Diskriminierung von Minderheiten stünden Tür und Tor offen. Darum ein klares Nein zur SBI.
Hannah Einhaus
Hannah Einhaus ist freie Publizistin und Historikerin. Als Chefredaktorin des jüdischen Berner Magazins «Forum» vertritt sie zudem die jüdische Seite in der interreligiösen Redaktion «zVisite».
«Freiheit und Souveränität sind nie absolut!» Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär der bischöflichen Ethik-Kommission «Justitia et Pax», zur Selbstbestimmungsinitiative auf «pfarrblatt» Online vom 8. Oktober