In der Wissenschaft gehe es beim Thema Nachhaltigkeit um Ziele, nicht um Gebote. «Das bequeme an den Zielen ist, dass man sich auf sie einigen kann», sagte Nachhaltigkeitsforscherin Sabin Bieri. Foto: Ruben Sprich
Neue Gebote für die ökologische Transformation
Nachhaltigkeitsexpertin Sabin Bieri diskutiert mit Bischof Felix und den Künstlerbrüdern Riklin
Weltveränderung war das grosse Thema an einer von der Katholischen Kirche veranstalteten Podiumsdiskussion im Betrieb Dock8 der Berner Neubausiedlung Holliger. Unter dem Titel «Wie schaffen wir den grossen Wandel?» diskutierten Bischof Felix Gmür, Nachhaltigkeitsexpertin Sabin Bieri und das Künstlergespann Frank und Patrik Riklin über Ansätze und Wege, wie man den epochalen Transformationsprozess zu einer grüneren und nachhaltigeren Welt schaffen kann.
Von Antonio Suárez
Im Rahmen der von der Katholischen Kirche Region Bern erstmals veranstalteten «Berner Nachhaltigkeitstage» fand am 15. September in Holligen eine anregende Debatte statt über mögliche Impulsansätze zur Bewältigung der globalen Klimakrise. Eingeladen waren Felix Gmür, Bischof von Basel und Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), Geografin Sabin Bieri, Leiterin des Zentrums für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern, sowie die Künstlerzwillinge Frank und Patrik Riklin vom Atelier für Sonderaufgaben. Gastgeberin der Podiumsdiskussion war Anouk Haehlen von der Katholischen Kirche Region Bern, Verantwortliche des Netzwerks Nachhaltigkeit im Dock8. Geleitet wurde die Gesprächsrunde von Moderatorin und Kommunikationsexpertin Karin Landolt.
«Die Welt ist in Schieflage: Ungleichheit in der Gesellschaft, Gier in der Wirtschaft… Wie erreichen wir ein ökologisches Gleichgewicht?» Mit dieser plakativen Ausgangsfrage eröffnete Moderatorin Landolt die illustre Diskussionsrunde im Quartierraum des Dock8, wo sich mehrere Dutzend Gäste einfanden. Ganz im Sinne einer Handlungsanleitung zur Weltveränderung boten die von den Gebrüdern Riklin entworfenen neuen Zehn Gebote den thematischen Einstieg in die Debatte. Die alttestamentarischen Gebote der Kirche taugten nicht mehr für das 21. Jahrhundert, benannte Frank Riklin die Gründe für die Neufassung. Dieser These widersprach Bischof Gmür, indem er entgegnete, dass der Dekalog bloss immer wieder neu gelesen und interpretiert werden müsse.
Auf die Frage der Moderatorin, was die Kirche tun könne, um den Transformationsprozess zu unterstützen, hielt Bischof Gmür fest, dass sie zur Bewusstseinsänderung durch ständige Predigt beitragen könne. Mit der Sorge um die Schöpfung, biete die christliche Ethik einen Anknüpfungspunkt für das aktuelle Umweltbewusstsein. Nachhaltigkeitsexpertin Sabin Bieri stellte die Begrifflichkeit in den Mittelpunkt. Gebote suggerierten eine höhere Dringlichkeit. In der Wissenschaft dagegen gehe es beim Thema Nachhaltigkeit um Ziele, nicht um Gebote. «Das bequeme an den Zielen ist, dass man sich auf sie einigen kann», sagte sie. Insofern böten sie einen Kompass. Doch Gebote seien mutiger als Ziele, denn sie schrieben etwas vor. Als Beispiel nannte Bieri das sogenannte 2-Grad-Ziel, dass ihrer Meinung nach «ziemlich emotionslos» sei. «Wir können sehr gut beschreiben, was beim Klimawandel genau geschieht. Aber wir sind weniger gut darin, den Wandel wissenschaftlich zu begleiten», so Bieri.
Immer wieder aufgegriffen wurde in der Debatte das Neunte Gebot der Brüder Riklin: «Suche nicht nach Kunden, finde Komplizen.» Der Begriff der Komplizenschaft stiess auch bei den beiden anderen Gesprächspartnern auf Anklang. So assoziierte Bieri den Begriff mit dem Subversiven. Die Verwendung des Begriffs begründete Patrik Riklin damit, dass sie Künstler seien, «die aus dem konventionellen Kunstbetrieb ausgebrochen» seien. Ein Komplize sei ein Mittäter. Die Gebote verstünden sie nicht als Regeln, sondern als Thesen, um aus der Erfahrung heraus Orientierung für den Wandel zu bieten. «Wir suchen die positive Störung», schilderte Patrik Riklin den Grundansatz ihrer künstlerischen Arbeit, die darauf ausgelegt ist, veraltete Denkmuster aufzubrechen. Zur Illustration blendete Frank Riklin den Trailer des Filmprojekts «Insect Respect» ein. Der noch unveröffentlichte Film handelt von der Aktion «Fliegen retten in Deppendorf», bei der ein Hersteller von Insektiziden in kafkaesker Verwandlung zum Insektenretter wird und seine Firma komplett neuausrichtet und zur Landschaftsgärtnerei umwandelt.
Das nonkonformistische Künstlerduo ist davon überzeugt, grosse Veränderungen kunstvoll anstossen zu können. Ein tragendes Instrument ihrer Kunst bildet die Provokation im Sinne eines Angriffs auf die unhinterfragten Konventionen in Wirtschaft und Gesellschaft. Diesem Gedanken konnte Bischof Gmür viel Sympathie abgewinnen. So nahm er während des Gespräches Bezug auf die Propheten und Prophetinnen der biblischen Zeit, die zwar keine Visionen entwickelt, es jedoch gut verstanden hätten, den Finger in die offene Wunde zu legen. Sabin Bieri begrüsste ihrerseits Patrik Riklins Kritik an den Machbarkeitsstudien, die er mit Papiertigern verglich.
Zum Schluss der Gesprächsrunde stellte Moderatorin Landolt die Frage, was die Diskussionsteilnehmenden tun würden, wenn sie von heute auf morgen die Welt verändern könnten. Mit Verweis auf Albert Einstein unterstrich Patrik Riklin die Bedeutung neuer Lösungsansätze. Probleme könnten nicht mit derselben Logik gelöst werden, wie sie entstanden seien, sagte er. Dessen Bruder Frank betonte seinerseits die Wichtigkeit der aktiven Gestaltung: «Durch Handeln Raum öffnen», so seine verkürzte Handlungsmaxime. Sabin Bieris Antwort lautete: «Ich würde sofort den Ausstieg aus den fossilen Energien verordnen und die Erwerbsarbeitszeit auf 20 Wochenstunden reduzieren.» Für diesen Satz erntete die Wissenschaftlerin einen Sonderapplaus des Publikums. Auch Bischof Gmür knüpfte das Gelingen des ökologischen Transformationsprozess an erfolgreiche Massnahmen zur sozialen Abfederung von Wohlstandseinbussen. Kernsatz seines Schlussstatements war: «Menschen sind offen für Veränderung, wenn sie glauben, dass es besser wird.»
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