Die Spiritualität der Einheit aus Jesu «Alle sollen eins sein» ist in der Fokolar-Bewegung zentral. Foto: Ruben Sprich
Nicht nur durchs Leben jetten
Menschen aus der Berner Fokolar-Bewegung erzählen, wie sie ihre «Spiritualität der Einheit» im Alltag leben.
Die Fokolar-Bewegung ist eine neuere geistliche Gemeinschaft christlichen Ursprungs. Ihr Name kommt vom italienischen «focolare» für Feuerstelle und bezieht sich auf die Wärme und Geborgenheit in der Familie. Menschen aus der Berner Fokolar-Bewegung erzählen, wie sie ihre «Spiritualität der Einheit» im Alltag leben.
von Anouk Hiedl
In einem ruhigen Strässchen des Berner Kirchenfeldquartiers stehen bunte Reihenhäuschen und stattliche Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten. Bei einem Eingang steht «Fokolar» über der Klingel. Simona Seeberger, 80, öffnet. Die ehemalige Sekretariatsleiterin des Bildungs- und Begegnungszentrums in Baar lebt seit sechs Jahren in der Berner Fokolar-Gemeinschaft, in der fünf ständige Fokolarinnen wohnen und drei Verheiratete angeschlossen sind.
Die pensionierte Primarlehrerin Irene Heim ist die langjährigste unter ihnen, sie lebt seit 20 Jahren hier. Im Esszimmer zeichnen Sofia, 7, und Lisa, 4, neben ihrem Vater, dem 40-jährigen Heilpädagogen Andreas Jans. Er und seine Frau tauschen sich monatlich mit fünf anderen Paaren in Eherunden darüber aus, «wie wir als Familie an der Einheit mit den Menschen um uns herum weiterbauen. Im Quartier begegnen uns die Leute mit leuchtenden Augen, weil wir nicht einfach nur durchs Leben jetten.»
«Im Zweiten Weltkrieg entdeckte die damals 23-jährige Italienerin Chiara Lubich aus Trient, dass alles ausser Gott vergänglich ist. Gott ist Liebe und immer da – das war wie eine Erleuchtung. Chiara richtete sich nach der Liebe und dem Evangelium aus», erklärt Irene Heim. 1943 weihte Lubich ihr Leben Gott und gründete die Fokolar-Bewegung. Nach ein paar Monaten schlossen sich ihr rund 500 Personen an, die wie sie leben wollten.
«Der damalige Erzbischof von Trient sah darin die Hand Gottes und unterstützte den Neuaufbruch», ergänzt Simona Seeberger. Sie selbst kam auf ihrer Italienreise 1960 erstmals mit der Fokolar-Bewegung in Kontakt. In Rom habe sie das authentische Leben der Fokolare gepackt, «diese Freude und Ausstrahlung zog mich an».
In Zürich lernte sie die Fokolar-Bewegung durch einzelne engagierte Menschen besser kennen. Einige Monate später wurde das erste Männerfokolar in Zürich eröffnet, «mit vier Fokolaren und vielen Zugewandten rundherum. In dieser Zeit verstand ich, dass ich mein Leben ganz Gott schenken wollte, wie Chiara. Kurz darauf wurde das Frauenfokolar in Zürich gegründet, und ich trat dort ein. Wir sind wie eine Familie, die sich weltweit für Geschwisterlichkeit und Dialog einsetzt. Das fängt im Kleinen an», so Simona Seeberger.
Andreas Jans war 2000 an einem internationalen Jugendfestival der «generazione nuova» in Rom. Eine Frau aus Ex-Jugoslawien erzählte, wie sie dem Mann vergab, der ihre Mutter missbraucht hatte. «Diese gewaltlose Kraft wünschte ich mir auch.» So lebte und arbeitete Andreas Jans danach sechs Monate lang in einer der 35 Siedlungen der Bewegung und übte dort das Fokolarleben mit anderen Menschen aus aller Welt ein. Seither versucht er, diesen «Spirit», egal wo und wann, überall zu leben.
Wenn er sich das bewusst vornehme, merke er immer, «dass die Kraft Gottes da ist, um diese Einheit weiter aufzubauen. Gelebte Gemeinschaft ist, wenn man für Unvorhersehbares Zeit hat. Langfristig gewinnt die Liebe. Den Frieden in sich zu behalten und andere zu Gutem anzuhalten, ist wie ein ansteckendes Feuer. Glauben ist herausfordernd, doch kann daraus viel Schönes wachsen. Im Gottesdienst und gegenseitigen Austausch kann man an diese Kraft anzapfen.»
Die Fokolar-Bewegung ist offen für die Begegnung mit Menschen anderer Religionen. Der Dialog mit allen Weltanschauungen ist ihr wichtig. «Jeder Mensch hat den anderen etwas zu geben, und wir teilen miteinander die Goldene Regel ‹Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen› (Lk 6,13), die in allen grossen Weltreligionen zu finden ist», so Irene Heim. «Diese Regel kann man im Alltag anwenden. Wenn ich mich zum Beispiel beim Kochen überwinden muss, halte ich einen Moment inne und versuche dann, es mit Liebe zu machen. Und ich übe mich im Zuhören und darin, mich in andere hineinzuversetzen.»
In diesem Sinn heisst die Fokolar-Bewegung auch «Werk Mariens». Statt Aktivismus an den Tag zu legen, solle man schauen, was das Gegenüber brauche – wie Maria. «Nicht das Machen ist zentral, sondern das Sein. Das schafft Zeit füreinander und vertieft die Beziehungen in der Familie, der Pfarrei und im Beruf.»
Weitere Infos: www.fokolar-bewegung.ch
Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, hat ihre Werte und ihr Engagement auch in der Berner Politik bekannt gemacht. Daraus ist die Plattform «Politik und Geschwisterlichkeit» entstanden. Sie engagiert sich bis heute dafür, dass sich Parteien respektieren, bei der Wahrheit bleiben, einander zuhören, nicht verurteilen und einen Konsens finden. Die ökonomische Plattform «Wirtschaft in Gemeinschaft» plädiert für nachhaltige Unternehmen, in denen mit dem Gewinn soziale Projekte unterstützt werden.
Am 22. Januar 2020 wäre Chiara Lubich 100 Jahre alt geworden. Dazu finden dieses Jahr weltweit Veranstaltungen statt, in denen das heutige Leben in der Fokolar-Bewegung im Mittelpunkt stehen. Das Leben und Wirken Lubichs ermutigt gemäss Maria Voce, der Präsidentin der Fokolar-Bewegung, viele Menschen, ihr Leben nach dem Evangelium auszurichten und «sich gemeinsam zu heiligen». Weltweit zählt die Fokolar-Bewegung ca. 140’000 offizielle Mitglieder in 182 Ländern. Etwa zwei Millionen Menschen stehen mit ihr in lockerem Kontakt oder unterstützen einzelne Projekte. In der Schweiz gibt es elf Fokolargemeinschaften.
kath.ch: «Die wohl mächtigste Frau in der katholischen Kirche»
Buchtipp: Bernd Aretz (Hrsg.): Chiara Lubich. Ein Leben für die Einheit. Neue Stadt Verlag GmbH, 2019, 232 Seiten, Fr. 30.90