«Ich habe kein Vertrauen in die Menschen mehr.» Foto: Cover des Porträtbandes über Holocaust-Überlebende.

Niemals vergessen!

04.02.2023

Ein Porträtband gibt den letzten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz eine Stimme.

«Wir müssen den Zeitzeug:innen zuhören, die noch unter uns sind», sagt Charlotte Knobloch, Beauftragte für Holocaust-Gedenken des Jüdischen Weltkongresses.

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Tatsächlich befinden wir uns in einer Zeit des Übergangs, da die letzten Zeugen wegsterben und kommende Generationen ihre Stimme nicht mehr vernehmen können. An dieser historischen Schnittstelle bemüht sich die 2014 in Zürich gegründete Gamaraal Foundation, mit einem Porträtband den verbliebenen Zeugen eine Stimme zu geben. Anita Winter, Initiantin und Präsidentin der Stiftung, zeichnet als Herausgeberin eines Buches, das mit seiner Gestaltung, seinen Bildern und Texten dem Schicksal dieser Menschen in würdiger Weise begegnet. In 22 Porträts, versehen mit einem Foto, einem biografischen Kurzabriss und prägnanten Aussagen, zeichnet es die Leidenswege nach.

Vielfältige Überlebensgeschichten

Sie waren Kinder und Jugendliche, geboren zwischen 1922 und 1938, als die Verfolgung einsetzte. Die einen überlebten, weil die Eltern sie wegschickten oder versteckten, andere durchlitten Jahre in den «Wohnungen des Todes» (Nelly Sachs) und wurden bei Kriegsende befreit. Aus ihren Herkunftsländern Deutschland, Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Rumänien, Ukraine, Griechenland und Luxemburg gelangten sie auf Umwegen früher oder später in die Schweiz, sei es aus beruflichen oder privaten Gründen.

Oder sie wurden wie die heute in Münchenbuchsee lebende Agnes Hirschi gerettet: Die damals Siebenjährige und ihre Mutter Magda Grauszlebten unter dem Schutz des Appenzellers Carl Lutz (1895–1975), Vizekonsul der Schweizer Gesandtschaft in Budapest, der über 60’000 Juden mit einem Schweizer Schutzbrief versah und die grösste Rettungsaktion wagte. Allerdings blieb ihm zeitlebens die Anerkennung der offiziellen Schweiz verwehrt. Ihm stand Gesandtschaftssekretär Harald Feller (1903–2003), später als Berner Staatsanwalt und Schauspieler des hiesigen Stadttheaters tätig, wirksam zur Seite: so im Fall der Zürcher Literaturagentin Eva Koralnik, ihrer Mutter und der kleinen Schwester.

Kein Vertrauen mehr

Wie sind sie mit ihren qualvollen Erfahrungen umgegangen? Der aus der Bukowina stammende Sami Sandhaus hielt sich mit seinem Willen, leben zu wollen und sich nicht aufzugeben, im KZ aufrecht. Wie haben sie mit der Last ihrer Vergangenheit weitergelebt? Er solle Baldriantropfen nehmen, riet jemand in naiver Weise Bronislaw Erlich, damit er seine Schlafstörungen bekämpfen könne. Nacht für Nacht denkt er, der heute in der Berner Alterswohnsiedlung «Elfenau Park» lebt, an seine Eltern und den kleinen Bruder, die er als Sechzehnjähriger bei der Flucht aus Warschau zurücklassen musste.

Das Knallen der Peitsche, als ihre kranke Mutter auf dem Todesmarsch vorwärtsgetrieben wurde, glaubt Katharina Hardy noch immer zu hören. Es gibt «Dinge, die ich nie erzählen werde, da sie zu grausam sind». Die Leichenberge, die er als Sechsjähriger in Bergen-Belsen sah, kann Egon Holländer niemals vergessen. Kurt Salomon gesteht: «Ich habe kein Vertrauen in die Menschen mehr. Ich vertraue nur noch mir selbst.»

Erinnerung wachhalten

Damit sich der Holocaust nicht wiederholt, müssen die Erinnerungen wachgehalten, das Zuhören geübt und das Wegschauen vermieden werden. Im Vorwort weist Anita Winter auf einen Zusammenhang hin, den auch andere Exponent:innen in diesem Buch betonen: «Wer vom Holocaust nichts weiss, versteht nicht, wie fragil eine Demokratie und wie verletzlich die Menschenrechte sind.» Immer wieder fragt man sich heute, wie es so weit kommen konnte. Die historische Perspektive zeigt auf, dass sich Rassenhass und Ausgrenzung nicht plötzlich manifestiert haben, sondern dass deren Anfänge weit zurückreichen. Daher ist Wachsamkeit gefordert – gerade auch heute.
 

The Last Swiss Holocaust Survivors, hrsg. von Anita Winter (Gamaraal Foundation). Stämpfl i Verlag 2023, Fr. 39.-