Abt Nikodemus Schnabel (rechts) trägt in der Christnacht zusammen mit anderen eine Rolle mit Namen nach Betlehem. Dort werden sie vor die Krippe gelegt. Foto: Basilius Schiel OSB, Benediktinerabtei Dormitio/Jerusalem

Nikodemus Schnabel: «Als Kirche sind wir pro Mensch»

Der deutsche Benediktiner Nikodemus Schnabel leitet als Abt zwei Klöster im Heiligen Land. Was der Krieg in Nahost für Christ:innen bedeutet und welche Rolle seinen Klöstern zukommt, erzählt er im Gespräch.

 

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Sie führen die Abtei Dormitio in Jerusalem und das Priorat Tabgha am See Genezareth. Sind diese Häuser in Zeiten des Krieges Oasen?

Nikodemus Schnabel: Oasen sind ein gutes Bild. Zurzeit verwende ich dennoch ein anderes: Ich bin umgeben von einem Ozean von Leid. In diesem Ozean sind die Häuser eher Inseln. Ich habe den Anspruch, dass Menschen, die eines unserer beiden Klöster betreten, hier Sicherheit und Frieden erleben und auftanken können. 

Inwiefern ist oder war Ihre Gemeinschaft von den Anschlägen der Hamas und von den Angriffen Israels auf Gaza betroffen? 

Schnabel: Was geschieht, betrifft uns seelsorgerlich, menschlich und ökonomisch. Es gibt christliche Opfer auf beiden Seiten: Vier Philippinos, die in den Kibbuzim in der Altenpflege arbeiteten, sind durch die Anschläge der Hamas umgekommen, und bisher sind 36 Christ:innen in Gaza und weitere im Libanon durch die Angriffe Israels getötet worden. 

Gibt es also einen spezifisch christlichen Blick auf diese Situation? 

Schnabel: Ja. Der christliche Blick hilft zu zeigen, dass die einseitige Polarisierung «pro Israel» oder «pro Palästina» keinen Sinn macht. In unseren Gottesdiensten kommen zwei Sprachen immer vor: Arabisch und Hebräisch. Beides sind Muttersprachen von christlichen Gläubigen. Das ist die spezifisch christliche Perspektive. In einer Moschee wird man kein Hebräisch hören und in einer Synagoge kein Arabisch. Unsere Position als Kirche ist die, dass wir in diesem Konflikt «pro Mensch» sind. 
 


Sie leben von Pilgernden. Diese bleiben infolge des Krieges aus. Wie wirkt sich das aus? 

Schnabel: Die Pilgernden sind unsere Haupteinnahmequelle. An guten Tagen im Frieden besuchen uns in Tabgha 5000 Menschen, in Jerusalem bis zu 3000. Zurzeit kommen noch rund 10 pro Tag. Pilger:innen können bei uns beichten, Seelsorgegespräche führen, Gottesdienst feiern und eine gute Zeit haben. Die Pilgertoiletten müssen geputzt, die Kirche bewacht werden, wir haben Läden und eine Cafeteria. Für diese Infrastruktur habe ich 24 lokale Mitarbeitende. 

Was geschieht mit ihnen? 

Schnabel: Unsere Kirchen und unsere Cafeteria waren noch nicht einen Tag zu. Meine 24 Mitarbeitenden haben insgesamt 29 Kinder im schulpflichtigen Alter. Wenn ich sie entlasse, werden sie zu Bettler:innen, die das Schulgeld für ihre Kinder nicht bezahlen können. Da spüre ich eine grosse soziale Verantwortung. Deshalb haben meine Mitbrüder und ich gemeinsam entschieden, niemanden zu entlassen. Im Moment gehen wir an unsere Altersvorsorge.

Sind durch den Krieg neue Aufgaben dazugekommen?

Schnabel: Das grösste Problem in diesem Konflikt ist die Entmenschlichung. Beide Seiten sprechen der anderen Seite das Menschsein ab, sprechen von «Monstern» oder «Tieren». Damit verschleiern sie den Skandal, dass Menschen andere Menschen töten. Dabei ist jeder Mensch ein Ebenbild Gottes. Unsere Aufgabe ist es, an diese Menschenwürde zu erinnern. 

Und wie tun Sie das?

Schnabel: Jeder Mensch ist nach dem Bild des Schöpfers geschaffen. Der Mensch ist aber nicht nur ein höheres Säugetier, sondern hungert auch nach schöpferischem Tun, womit er mit seiner ureigenen Würde in Berührung kommt. Deshalb haben wir sehr in den Bereich Kunst und Kultur investiert. Wir waren nach dem 7. Oktober einer der wichtigsten Konzertsäle Jerusalems. Wir haben unsere Kirche und unser Kloster zudem für acht einheimische Künstler:innen zur Verfügung gestellt, die sich mit dem Thema Glauben auseinandergesetzt haben, am grössten Kunstfestival Israels. Wir hatten zwei Wochen Tanztheater und anderes in der Kirche. In diesen Bereich wollen wir weiter investieren. Vielleicht ist das nun unsere Berufung.
 

Weihnachtsaktion: «Ich trage deinen Namen in der Heiligen Nacht»

Namen von Menschen, welche die Benediktinermönche in der Heiligen Nacht mit nach Betlehem nehmen sollen, können Sie in der Reihenfolge «Vorname, Nachname» per Mail an weihnachtsaktion@dormitio.net schicken oder via Onlineformular auf www.dormitio.net/weihnachtsaktion. Hier findet sich auch ein Formular für Spenden zugunsten von Projekten mit Menschen mit Behinderung. 

An Weihnachten wurde Gott Mensch. Wie feiern Sie dieses Fest in Anbetracht des Krieges?

Schnabel: Sehr wichtig ist unsere Weihnachtsaktion «Ich trage deinen Namen in der Heiligen Nacht» (siehe Kasten). Unser Kloster ist 10 km von Betlehem entfernt. Jeweils nach der Mitternachtsmesse wandern wir zur Geburtskirche in Betlehem. Wir sammeln im Vorfeld Namen von Menschen auf einer Schriftrolle, die wir mittragen und beim Geburtsstern in Betlehem niederlegen. Wir legen sie damit in die Krippe, tragen sie vor Gott. Denn den Namen einer Person zu sagen, rührt den Wesenskern des Menschen an. 

An Weihnachten singen die Engel «Frieden auf Erden». Wirkt das nicht etwas zynisch? 

Schnabel: Menschen können für andere auch zu Engeln werden. Aber wir können die Freiheit, die Gott uns liess, missbrauchen und unsere Kräfte zerstörerisch einsetzen. Ich erlebe täglich Menschen, die über sich hinauswachsen, die sich mit Herzblut für Versöhnung, Frieden, Mitmenschlichkeit engagieren. Es gehört aber auch dazu, dass so ein Krieg Schlechtes aus Menschen hervorholen kann. Leider machen 100 Menschen, die sich für Frieden engagieren, weniger Lärm als einer, der Feuer legt. 

Was gibt Ihnen Hoffnung? 

Schnabel: Mein Glaube. Ich habe das tiefe Vertrauen, dass Gott da ist und die Menschheit nicht im Stich lässt. Mir sind zwei österliche Orte anvertraut: Der auferstandene Jesus ist am Berg Zion und am See Genezareth erschienen. Wo wir Menschen nur Tod und Vernichtung sehen, kann Gott neues Leben, Versöhnung, Neuanfang schaffen. Ich schöpfe aus diesem österlichen Glauben ganz viel Hoffnung. Und dann sind da die Begegnungen mit Mitmenschen, die mich beeindrucken. Es gibt so viele wunderbare Menschen hier.

 

Maria Entschlafung

Die Dormitio-Abtei ist eine deutschsprachige Benediktinerabtei auf dem Berg Zion in Jerusalem. Hier, in der Nähe des Abendmahlssaals, soll die Gottesmutter Maria entschlafen sein (von lat. dormitio «Entschlafen, Tod»). Der deutsche Kaiser Wilhelm II. erwarb das Grundstück 1898 und übergab es dem Deutschen Verein vom Heiligen Land. 1906 zogen die ersten Mönche ein, heute sind es deren 13. Die Abtei hat seit 1939 eine Niederlassung in Tabgha am See Genezareth, am Ort der Brotvermehrung. Weitere Infos


Erstpublikation im Kantonalen Pfarreiblatt Luzern