Waren 25 Jahre in den Quartieren unterwegs: Rolf Friedli und sein Wohnwagen. Foto: Pia Neuenschwander
Offen für Veränderung
Rolf Friedli geht in Pension
Rolf Friedli ist ein Pionier der aufsuchenden Quartiersarbeit. Seit 25 Jahren geht der Mitarbeiter der Fachstelle Kinder und Jugend mit seinem mobilen Quartierszentrum zu den Menschen in Bern und Umgebung, um gemeinsam mit ihnen die Lebenssituation in ihrem Quartier nachhaltig zu verbessern. Im Februar 2024 beginnt auch für ihn ein Veränderungsprozess.
von Christian Geltinger
Vom Tellerwäscher zum Millionär, so lautet das landläufige Karriere-Motto von Menschen, die es angeblich «geschafft» haben. Rolf Friedli, der im Februar in den Ruhestand wechselte, hat auch im Gastro-Gewerbe angefangen, er ist gelernter Koch, und landete einige Jahre später nach einem Studium als Sozikultureller Animator schliesslich bei der Katholischen Kirche Region Bern, deren Sozialraumarbeit er in den letzten 25 Jahren entscheidend mitgeprägt hat. Zwar gab es dafür keine Millionen, aber die innere Befriedigung ist dem Fan von Züri West und Patent Ochsner mit dem jugendlichen Style in jeder Faser anzumerken und die Wehmut, dass dieser Abschnitt jetzt bald zu Ende gehen soll.
Menschen zusammenbringen
«Der Job in der Gastronomie unterscheidet sich gar nicht so stark von dem, was ich jetzt mache. Quartiersarbeit bedeutet vor allen Dingen Menschen zusammenzuführen, zuzuhören und die unterschiedlichen Bedürfnisse herauszufiltern und ernst zu nehmen. Und dann geht es natürlich auch um die praktische Umsetzung der gemeinsamen Ziele. Hier ist die Partizipation der Menschen gefragt. Das Mithelfen schafft Identifikation mit dem Ergebnis.»
Im Mittelpunkt eines Projekts steht immer die Frage: Wie kann man das Zusammenleben von Menschen in einem abgesteckten Lebensraum verbessern, die Kommunikation miteinander, das Abbauen von Schwellen im sozialen Miteinander und das Angebot für Menschen, die sozial benachteiligt sind? «Alles hängt mit allem zusammen.» Die Liste von Friedlis Einsatzorten ist lang. Kehrsatz, Zollikofen, Konolfingen oder Münchenbuchsee waren nur einige seiner Wirkungsstätten.
Der Service-Charakter wird bei dem Ex-Koch nach wie vor ganz gross geschrieben. Wenn er mit seinem Wohnwagen im Quartier unterwegs ist und dort als erste Massnahme Freizeitgestaltung für Kinder anbietet, ist es ein absolutes No Go, wenn für die Erwachsenen Instant-Kaffee ausgeschenkt wird. «Natürlich möchte ich einen Latte Macchiato auf dem Niveau einer italienischen Espressobar anbieten, das ist ein Zeichen von Wertschätzung!» Der Weg zu den Erwachsenen geht über die Kinder. Der mobile Quartierstreff von Friedli wird damit nicht nur zum Freizeitparadies für Kinder, sondern auch zum Treffpunkt für deren Familien. Rolf möchte erfahren, wo der Schuh drückt.
Eskalation vorprogrammiert
Dabei spielt das Milieu, in dem sich Quartiersarbeit bewegt, grundsätzlich erst einmal eine untergeordnete Rolle. Genau genommen kann sie in jedem Sozialraum stattfinden, in dem das Bedürfnis nach einer Veränderung im gemeinsamen Zusammenleben notwendig erscheint. «Der Unterschied ist der, dass die Menschen, die in arrivierten Vierteln leben, deutlich mehr Möglichkeiten und Kompetenzen haben, ihre Situation zu artikulieren und zu verbessern, während Menschen im sogenannten «sozialen Brennpunkt» nicht über diese Ressourcen verfügen. Hier können wir Hilfestellungen bieten, zum Beispiel beim Umgang mit den Behörden, mit den Schulen, den Hausverwaltungen.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass viele Menschen nicht einmal über das Recht zu wählen verfügen. Diese Menschen brauchen Unterstützung, damit auch deren Interessen gehört werden. Nur wer einbezogen wird, identifiziert sich auch mit seiner neuen Heimat. Eine gelungene Integration von sozial Schwachen und Asylsuchenden trägt immer auch zum grossen Ganzen mit bei.» Wo es beispielsweise keine Spielplätze mehr gibt, wo Kinder keinen Ort haben, sich frei zu bewegen oder mit anderen in Kontakt zu treten, dort werde die soziale Situation früher oder später zwangsläufig eskalieren.
In der Rückschau hat sich für den Pionier der Quartiersarbeit vieles zum besseren entwickelt. Die Arbeit im Sozialraum hat sich deutlich professionalisiert. Heute ist die Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Playern vor Ort viel mehr auf Augenhöhe. Gerade das «Label» Katholische Kirche gilt für viele als Garant für Seriosität. Die Kirche wird mit ihrem diakonischen Auftrag für alle Menschen, nicht nur für Christ:innen, ernst genommen. «Wir werden viel früher in Prozesse der Raumentwicklung eingebunden.» Die Kirchen hätten aber auch die Möglichkeit, verschiedene Prozesse schneller vorantreiben zu können.
Einfluss auf die Situation vor Ort
Im Gegensatz zu den 90er Jahren, wo die Quartiersarbeit noch deutlich unorthodoxer abgelaufen ist und Menschen wie Friedli eher in die Schublade linksalternativer Sozialromantiker gesteckt wurden, erkennt heute neben der Politik und Verwaltung auch das ansässige Gewerbe das Potential, das in der Quartiersarbeit liegt: «Früher hatte man da eher gegenseitige Berührungsängste, heute ist es klar, dass die Situation in einem Quartier auch erheblichen Einfluss auf die Geschäfte und die Gastronomie hat.
Ich glaube, da mussten beide Seiten erst einmal Vorurteile abbauen.» «Vertrauensvoll, menschennah, respektvoll, vernetzend, engagiert, konstruktiv, effizient, erfolgreich, kreativ, verbindend, offen, transparent, stärkend, aktiv, lebendig, befruchtend, vielfältig… Alle diese Adjektive – und natürlich noch viele mehr – beschreiben die Zusammenarbeit mit der Katholischen Kirche im Bereich Quartierarbeit. Menschen werden zusammengebracht, soziale Netzwerke aufgebaut, der Gemeinschaftssinn gestärkt und die Lebensqualität verbessert», so fasst Gemeindeschreiberin Regula Liechti aus Kehrsatz die Zusammenarbeit zusammen.
Neues ausprobieren
Sorgen bereitet ihm jedoch das Phänomen der Gentrifizierung, der Transformation von ehemaligen Vierteln mit «normalen» Leuten zu In-Vierteln mit überteuerten Preisen: «Wohnraum muss für jeden bezahlbar sein. Für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander ist es von entscheidender Bedeutung, dass in einem Viertel alle Schichten vertreten sind.» Hier besteht Potential in der Planung von Lebensräumen.
Nostalgisch wird es, wenn Rolf Friedli am Ende seiner Berufslaufbahn über die ersten Jahre der Quartiersarbeit nachsinniert. «Damals hat man seinen Wohnwagen einfach irgendwo hingestellt und hat angefangen.» Hier kommt seine grosse Freiheitsliebe zum Ausdruck: Einfach Dinge mal ausprobieren. Dinge anders denken. Das ist wichtig, wenn man etwas verändern will. Seine grosse Leidenschaft, das Wandern, kommt dieser Freiheitsliebe sehr entgegen. Dieser Leidenschaft kann er jetzt verstärkt nachgehen. Und er will wieder mehr Musik machen. Aber er hat auch schon Pläne, wo er sich im Ruhestand sozial engagieren kann. Lange wird er es nicht zu Hause aushalten.