«Es ist eine Gegenbewegung zur Professionalisierung in der Kirche nötig.» Gerda Hauck Foto: Ruben Sprich
«Ohne jemanden auszugrenzen»
Gerda Hauck tritt auf dem Kleinen Kirchenrat zurück. Ein Gespräch über Religion, Kirche und die Weitergabe von Verantwortung.
Nach elf Jahren ist Schluss: Die 74-jährige Gerda Hauck tritt aus dem Kleinen Kirchenrat (KKR) der katholischen Kirche Berns zurück. Ein Gespräch über Herausforderungen in der Kirche, im Leben und im Glauben.
von Andreas Krummenacher
«pfarrblatt»: Freuen Sie sich auf ein Leben ohne Sitzungen?
Gerda Hauck: Ich habe mich auf jede Sitzung gefreut. Wirklich. Die Menschen zu sehen und mit ihnen etwas zu gestalten. Ich beginne nun aber mit Freude einen neuen Lebensabschnitt. Es ist so wichtig, dass jetzt jüngere Menschen die Verantwortung übernehmen. Unbedingt. Man muss etwas wagen in dieser Kirche. Man muss sich etwas getrauen, ohne Angst zu haben, etwas zu verlieren.
Vor welchen Herausforderungen steht die Kirche?
Die Gesellschaft verändert sich. Prognosen zeigen, dass schon in wenigen Jahren bloss noch ein Drittel der Menschen einer christlichen Kirche angehören wird, ein Drittel wird konfessionslos sein, und ein Drittel wird einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Die Kirche und ein kleiner Kirchenrat müssen hier Überlegungen anstellen.
Jetzt geht es aber doch primär um die grosse Fusion der Kirchgemeinden auf dem Platz Bern …
Das ist wichtig. Zweifellos. Aus meiner Sicht ist das aber Bewältigung der Vergangenheit. Verstehen Sie mich nicht falsch, mir ist wichtig, dass das funktioniert. Das wird die nächsten drei Jahre wichtig sein. Der kulturelle Wandel aber wird uns langfristig betreffen. Also, wie können wir nahe bei den Menschen sein? Wir müssen die Verantwortlichen vor Ort entlasten. Sie sollen sich nicht mit Strukturreformen herumschlagen müssen.
Reicht das, um nahe bei den Menschen zu sein?
Das macht Ressourcen frei. Nahe bei den Menschen sind wir, wenn wir beispielsweise die Freiwilligen stärken, sie verantwortlich einbinden. Es ist eine Gegenbewegung zur Professionalisierung in der Kirche nötig. Ich bin nicht gegen Professionalität, das ist etwas anderes. Dass aber alles in Pflichtenhefte und Stellenbeschreibungen gepresst wird und mit guten Löhnen abgegolten wird, das ist nicht lebendig. Das war in den letzten 20 Jahren eine sicher notwendige Entwicklung. Aber wir müssen jetzt andere Schritte machen.
Was haben Sie in diesem Bereich angestossen?
Ich würde für mich nicht in Anspruch nehmen, dass ich etwas angestossen habe. Ich habe versucht mitzugestalten. Der KKR ist ein gemeinsam in der Verantwortung stehendes Gremium. Mich interessiert, konkret, da wo ich bin, etwas zu bewegen, Türen aufzustossen, Chancen zu ermöglichen. In meinem Ressort Soziales und Diakonie war ich ständig im Kontakt mit innerkirchlichen und ausserkirchlichen Institutionen, die im Einzelfall oder gesellschaftspolitisch mit Menschen arbeiten, die abseitsstehen – Stichwort: Gassenarbeit – oder die ungenügenden Zugang zum Recht haben – Stichwort: Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not –, was die Grundfesten unseres Rechtsstaats schleichend unterhöhlt, oder die nicht gleichwertig am Alltag in unserer Gesellschaft teilnehmen können, aus wirtschaftlichen Gründen beispielsweise oder weil sie sonst wie ausgegrenzt werden.
Ich denke, die Kirche appelliert mit ihren Botschaften in solchen Situationen an uns alle. Helfen alleine genügt nicht. Wir müssen selber wacher, diakonischer werden. Leider gehen von der Kirche auch immer wieder negative Botschaften aus. Da braucht es auch mehr Wachheit.
Beginnen wir doch zuerst mit den positiven Botschaften ...
Kirche ist Gemeinschaft. Sie bietet durch die Bibel, durch Heiligengeschichten, durch ihre eigene, oft widersprüchliche Geschichte und durch ihre Rituale Identifikationsmöglichkeiten jenseits von Einengendem. Ich meine, viele Menschen suchen gerade heute mögliche Antworten auf die Fragen: «Wo gehöre ich dazu? Wo möchte ich dazugehören?» Wir sind nun mal auch Gemeinschaftswesen.
Und welche negativen Botschaften gehen von der Kirche aus?
Kirche ist auch Struktur. Sicher braucht es Ordnung und Regeln. Dagegen bin ich gar nicht. Aber nur auf die eigene Definitionsmacht zu setzen, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten, das ertrage ich nicht. Die katholische Kirche ist ein grosses Dach für viele verschiedene Kulturen. Da ist es nicht einfach, Struktur und Ordnung überzeugend lebendig zu halten.
Es geht aber nicht an, dass wir als Kirche im Namen von Struktur und Ordnung Menschen ausgrenzen. Deshalb hadere ich momentan mit dem Papst, so sehr er mir in vielem Identifikationsmöglichkeit bietet. Wie kann er sagen, man dürfe die Armen nicht ausgrenzen, und gleichzeitig grenzt er selber andere Gruppen wie Homosexuelle aus? Das geht nicht. Das passt nicht zusammen.
Oder: Wie können wir alle weiter die Augen fest zudrücken vor diesem Giftschlangennest im Vatikan? Ist der Papst da wirklich so hilflos? Mich schmerzt das ebenso wie jüngst der Austritt von sechs bekannten Schweizer Frauen aus der katholischen Kirche. Ich erwarte keine perfekte Struktur, im Gegenteil. Aber heute wie in biblischen Zeiten dreht es sich auch in der Kirche eben darum, ob man mir und anderen möglich macht, dazuzugehören oder nicht, ob die Kirche «in Gottes Namen» einlädt oder nicht.
Können denn die positiven Werte das alles aufwiegen?
Ich fühle mich in der katholischen Kirche daheim. Ich habe dazu persönlich keine Alternative. Natürlich könnte ich auch austreten. Aber ich bin in mancherlei Hinsicht mit dieser Kirche und den Menschen darin verbunden. Ich wandere ja auch nicht aus, weil mir vieles in der Schweiz nicht passt. Ich lebe in einer Gemeinschaft. Ich verstehe all jene, die austreten. Ich mache mir nichts vor, es ist einfach das, was ich habe, es ist mein Leben.
Was ist die positivste Veränderung in der Kirche?
Die beginnt jetzt. Wir beginnen uns langsam zu lösen von diesen Schwarz-Weiss-Schemen. Ich lerne Menschen kennen, die denken nicht mehr in vor- und nachkonziliär. Auch Nachkonziliäre haben manchmal ein Schwarz-Weiss-Denken; ich finde das ehrlich gesagt ziemlich langweilig. Wirklich herausfordernd ist doch heute und für die Zukunft, wie wir mit Andersdenkenden, Andersglaubenden, Andersliebenden umgehen.
Wie kann man sich beispielsweise immer noch darüber aufregen, wenn ein Priester einen Römerkragen trägt? Ich finde solche Aufregung eher Zeitverschwendung und sinnlos. Jeder kann rumlaufen, wie er will. Solche Diskussionen – Kopftuch ist ein anderes Beispiel – gehen am Wesentlichen vorbei. Es muss alles Platz haben. Wichtig ist, wie wir miteinander umgehen, wie ehrlich und wie wenig ausgrenzend.
Wie sind Sie überhaupt zur Religion gekommen?
Ich weiss gar nicht, ob ich religiös bin. Es ist mehr ein Suchen. Nicht nur im religiösen Bereich. Ich wuchs in einer liberal-katholischen Familie auf. Es gab Zeiten, wo ich stark zweifelte. Ich fragte mich beispielsweise, ob ich das Glaubensbekenntnis überhaupt noch beten kann, wenn ich nicht voll und ganz hinter diesem Bekenntnis stehe.
Heute kann ich das problemlos beten, weil ich mich frage, was diese Texte alles bedeuten könnten. Unsere liturgische Sprache ist manchmal etwas abgehoben und fremd. Ich verstehe Menschen, die fordern, man müsse auch liturgisch anders miteinander reden. Persönlich frage ich mich eher, was sich hinter den Wörtern an von mir Unentdecktem verbirgt. Es stehen ja Jahrhunderte hinter diesen Texten. Was mag die Menschen, für die sie bestimmt waren, emotional berührt haben?
Sie waren massgeblich am Aufbau des Hauses der Religionen beteiligt. Auch da haben Sie die Verantwortung abgegeben. Ging das ohne Probleme?
Natürlich. Ich mache dort weiter Freiwilligenarbeit. Mir gefällt, dass das ein Projekt ist, das sich stetig in einem Veränderungsprozess befindet. Dort geht es durch die Laborsituation etwas schneller. Kirche wäre ja eigentlich auch ein Teil des gesellschaftlichen Labors auf dem Weg zu vorübergehenden Antworten auf all die Veränderungen.
Auch in der Kirche müssen wir mehr miteinander ins Gespräch kommen oder im Gespräch bleiben. Wie gehen wir als lebendige katholische Kirche untereinander und mit den anderen Konfessionen oder Religionen um, ohne dass wir jemanden ausgrenzen?
Sie haben bestimmt eine Antwort darauf, welches die beste Religion ist.
Sicher nicht. Die beste Religion gibt es nicht. Alle Religionen geben Antworten oder versuchen, diese zu geben. Viele Antworten der Religionen sind gleich. Da, wo die Antworten unterschiedlich sind, sagen sie alle etwas aus über uns Menschen, über unsere Bedürfnisse und vielleicht auch über das Transzendente, wenn es das denn gibt. Im Moment habe ich das Gefühl, dass es so etwas gibt, das ich so bezeichnen würde. Darum gefällt mir, wenn es am Schluss der Wandlung in der Messe heisst «Geheimnis des Glaubens». Für mich mit Betonung auf Geheimnis, auch dann, wenn man nicht glauben kann.
Jetzt sagen alle, Sie müssen loslassen. Ein blöder Begriff?
Ich muss nicht loslassen. Natürlich gibt es eine Umstellung. Die erste Zeit, als ich nach meinem Rücktritt als Präsidentin ins Haus der Religionen kam, merkte ich, dass sich die innere Haltung veränderte. Früher hatte ich Verantwortung, jetzt nicht mehr. Das ist super. Es wäre naiv, zu meinen, ich könne jetzt einfach den Schalter kippen. Aber ehrlich gesagt, ich bin ganz gespannt, wie es weitergeht.