Gottfried Locher, Dr. theol., Studium der Theologie in Bern und London, Pfarrer der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Bern, Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, verheiratet, Vater von drei Kindern. Foto: Pia Neuenschwander

Ostererschrecken

22.03.2017

Der oberste Reformierte der Schweiz, Gottfried Locher, über Bruder Klaus, ökumenische Gottesdienste und das Erschrecken, mit dem Ostern beginnt.

Der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK, Gottfried Locher, predigt auf Einladung von Abbé Christian Schaller zu Ostern in der Dreifaltigkeitskirche Bern. Wie glaubt und denkt der oberste Reformierte der Schweiz?

«pfarrblatt»: Herr Locher, eine Frage vorab, die wir nicht vorbereitet haben.
Gottfried Locher: (lacht). Die wussten Sie doch schon lange. Das würde ich auch so machen.

Der Zusammenhang ist der: Abbé Christian Schaller, der Sie ja zu den Osterpredigten in die Dreifaltigkeitskirche eingeladen hat, stellten wir zu seinem Amtsantritt als Pfarrer der Dreifaltigkeitspfarrei unter anderem die Frage nach dem Reformationsgedenken.
Ah, und Sie stellen mir jetzt im Gegenzug eine katholische Frage.

Genau. Was bedeutet Ihnen der Bruder Klaus?
(überlegt eine Weile). Dieser Mann ist mir wichtig. Das war nicht immer so, im Studium lernten wir nichts über ihn. Aber jetzt bin ich 50 Jahre alt geworden, und genau mit Fünfzig hat Bruder Klaus seine Familie verlassen. Fünfzig ist eine Zäsur, das empfinde ich so. Bald werde ich alt sein. Einiges von dem, was ich tun wollte, ist geglückt, und was nicht glückte, ist auch vorbei. Wer sich nicht selber anlügt, weiss: Ab jetzt sollte man sich Zeit nehmen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Wobei, das gilt ja eigentlich für jedes Alter. Mein Vater wurde 56 Jahre alt, diese «Marke» habe ich immer im Kopf. Alles, was vielleicht nachher noch kommt, wäre geschenkte Zeit. Von Bruder Klaus können wir lernen: Konzentration auf das Wesentliche, und zwar dann, wenn wir es noch tun können. Aber nicht alle werden das so radikal umsetzen wollen.

Die Frau von Bruder Klaus hatte damals wohl keine grosse Wahl.
Das stimmt. Klaus aber vermutlich auch nicht, bei einer echten Berufung hat man ja keine Wahl. Aber was wissen wir schon von den Gesprächen jenes Ehepaares in den Jahren vor dem Entscheid? Und was von der inneren Verbindung danach?

Stichwort Berufung: Was war Ihre Berufung, ausser der «familiären Gene»?
Theologie habe ich eher aus akademischem Interesse studiert. Auf Vaters Seite gab es in fast jeder Generation Theologen, die familiäre Vorbelastung ist also da. Der Grossvater, mein Vater und ich, wir hiessen auch alle Gottfried, und als ich noch klein war, spazierten diese drei Gottfrieds sonntags oft gemeinsam «z’Predig» in die Kirche im Spiegel bei Bern. Dieser Kirchgang war damals und auch später noch eher eine schöne Gewohnheit als eine Berufung.

Und warum wurden Sie Seelsorger?
Seelsorger wurde ich erst im Pfarramt. Ich erinnere mich, wie ich als 28-jähriges Greenhorn am Sterbebett einer alten Dame in meiner Londoner Gemeinde sass und nicht viel Schlaues zu sagen wusste auf die einzige Frage, die nun wirklich wichtig war: «Herr Pfarrer, was kommt jetzt?» Plötzlich war das nicht mehr bloss ein reizvolles Gedankenspiel, sondern eine Frage von Leben und Tod, ganz wörtlich. Ein guter Seelsorger macht aus Theologie Lebenshilfe. Solche Lebenshilfe ist auch Sterbenshilfe. Mir gelingt das leider nur selten. Trotzdem gebe ich mir Mühe, in der Theologie hinter dem Unwesentlichen das Wesentliche zu suchen. Gottes Geheimnis menschliche Sprache zu geben, das versuche ich. Wir können uns nicht verstecken hinter Abstraktionen und Fremdwörtern. Ein guter Seelsorger hat etwas zu sagen, und dieses Etwas ist eine Mischung aus solider Theologie, persönlichem Glauben und viel Lebenserfahrung.

Sie wurden in die katholische Pfarrei Dreifaltigkeit eingeladen, um in den Ostertagen die Predigten zu halten. War das Ihre Idee?
Das war eine gemeinsame Idee von Abbé Christian und mir. Hier in der Geschäftsstelle des Kirchenbundes haben wir uns kennengelernt und uns gut verstanden. Wir teilen dieselbe ökumenische Sehnsucht. Es ist jetzt Zeit für ein klares Zeichen, schien uns, im Reformationsjahr, im Gedenkjahr an Niklaus von Flüe. Nun feiern wir miteinander, von Aschermittwoch über Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag bis Ostern. Wir haben Freude daran, und offenbar auch viele Gottesdienstbesucherinnen und -besucher.

Inwiefern stand das Reformationsgedenken Pate bei dieser Einladung?
Pate stand: solus Christus! Christus in den Mittelpunkt. Dahinter stehen sowohl die Reformatoren wie auch Niklaus von Flüe. Abbé Christian und ich machen nichts anderes als sie: Wir verkündigen Christus in Wort und Tat. Dafür können wir aus verschiedenen Schätzen schöpfen. Die katholische Liturgie ist überaus reichhaltig und erfahrungsbezogen. Reformierte Predigtkultur hat viel Übung mit der Auslegung des Wortes. Beides wird nun in den Ostertagen zusammengeführt. Liturgisch haben wir für einmal praktisch das «Füfi und das Weggli»!

Gibt es erste Reaktionen?
Oh ja, viele schöne. Und das ist überhaupt nicht selbstverständlich, die konfessionellen Gräben sind ja noch nicht in allen Herzen zugeschüttet. Es gab eine Anfrage bei Bischof Felix wegen dieser Predigt. Die Homilie, also die Predigt, bleibt immer in der Verantwortung des zelebrierenden Priesters. Ich akzeptiere das gerne. Nun macht der zuständige Priester quasi ein Intro und gibt mir dann das Wort. Das ist kirchenrechtlich in Ordnung so.

Stört Sie das nicht, sich dieser katholischen Ordnung quasi zu unterwerfen?
Es geht um Takt, nicht um Unterwerfung. Wären wir in einer reformierten Kirche, würde ich genauso erwarten, dass ein Gast unsere Regeln akzeptiert. Wichtiger ist doch, dass wir überhaupt miteinander feiern, nicht nur einmal, sondern viele Male, eine ganze Passions- und Osterzeit lang. Mir ist das kostbar genug. Das religiöse Empfinden anderer Leute brauche ich dabei nicht auch noch zu verletzen. Deshalb empfange ich auch nicht die Kommunion in diesen Gottesdiensten. Das fällt mir ziemlich schwer, aber ich will keinen Eklat provozieren.

Bei ihren Pfarrerkollegen und -kolleginnen könnte das aber schon Kritik auslösen?
Kritik kommt immer, wenn jemand tut oder sagt, was noch nicht getan oder gesagt worden ist. Ich bin sie gewöhnt, liturgisch, wenn ich den Segen mit einem Kreuzzeichen besiegle, theologisch, wenn ich die Bedeutung der Dogmen betone, kirchlich, wenn ich ein reformiertes Bischofsamt verlange – Kritik gibt’s immer auch. Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit: Ebenso viele Menschen freuen sich darüber, wenn Mauern abgebrochen und Brücken gebaut werden. Wir sollten immer wieder mal etwas Tapferes, Neues wagen.

Warum machen Sie das?
Weil wir betonen sollten, was uns eint, nicht was uns trennt. Ein Blick auf die Religionsverteilung in der Schweiz zeigt doch: Wir können uns innerchristliche Streitigkeiten nicht mehr leisten. Es ist Zeit für das gemeinsame Christuszeugnis. Dieses Zeugnis ist immer sichtbar und öffentlich, wenn es glaubwürdig sein soll. Wir müssen gemeinsam Farbe bekennen. Bei «Farbe» denke ich übrigens konkret auch ans Kirchenjahr: An Ostern ist die liturgische Farbe weiss, nicht nur bei den Katholiken. Bekennen wir auch liturgisch Farbe, in allen Kirchen, auch in den reformierten.

Können Sie die Kritik aus den eigenen Reihen verstehen?
Immer schlechter. In Zeiten, wo uns Christinnen und Christen links und rechts davonlaufen, reformierte und katholische, sollten wir endlich voneinander lernen. Wollen wir wirklich auf gemeinsame Symbole verzichten, auf Worte und Taten, die typisch christlich sind und die uns sichtbar verbinden? Man muss nicht einmal Theologe sein, um das falsch zu finden. Allein schon ein Marketingmensch würde sich die Haare raufen.

Viele Menschen finden kaum noch Zugang zur Kirche. Sie haben es erwähnt. Warum ist das so?
Weil sie dort Christus nicht mehr erleben. In allen Evangelien lesen wir, dass Christus Menschen veränderte, wenn sie ihn erleben konnten. Diese Unmittelbarkeit gelingt uns heute schlecht. Wir scheitern, weil wir allerlei andere Sachen in den Mittelpunkt setzen, nicht die Christus-Begegnung. Das müssen wir verstärken. Einerseits im Gottesdienst: Es braucht Liturgien, wo Christus erlebbar wird. Das beginnt schon bei den Kindern, die biblischen Geschichten sind das Rückgrat jedes kirchlichen Unterrichts. Und andererseits auch in der Diakonie: Diakonie ist kein Gottesdienst-Ersatz, sondern Gottesdienst im Alltag. Diakonie ist Christuszeugnis durch die Tat. Wir sollten nicht den Fehler machen, uns über angeblich religiös neutrale Sozialdienstleistungen verkaufen zu wollen. Stehen wir dazu, dass wir Christen sind, wenn wir helfen.

Einspruch: Gerade das sozialdiakonische Engagement der Kirchen geniesst eine hohe Glaubwürdigkeit. Viele bezahlen deswegen ihre Kirchensteuern noch.
Und recht haben sie. Das christliche Leben beschränkt sich nicht auf Orgelklänge, Kerzenlicht und Weihrauch. Christliches Zeugnis ist eine Sache der Tat, nicht nur des Wortes, ja, die Tat ist manchmal sogar das stärkere Wort. Mein Punkt ist: In der christlichen Tat soll das christliche Wort erkennbar bleiben. So ist das z.B. beim bekannten Pfarrer Sieber in Zürich. Sein Sozialwerk ist ein einziges grosses Christuszeugnis. Er steht dazu.

Gerade aber diese Koppelung an ein Bezeugen hat problematische Seiten, was zum Beispiel die schwierige Geschichte des Missionierens zeigt.
Stimmt, aber wollen wir deswegen das Wort «Mission» den Frömmlern überlassen? Mission ist Christuszeugnis, nicht mehr und nicht weniger. Glaubwürdig ist es sowieso nur, wenn es nicht bedrängt, sondern begeistert, wenn es nicht vereinnahmt, sondern einlädt. So verstehe ich den Missionsbefehl im Matthäusevangelium.

Schafft das Glaubwürdigkeit?
Glaubwürdig ist, wer authentisch ist. Authentisch heisst ehrlich, ehrlich zu sich selber und zu den andern. Wer mir so begegnet, dem mag ich zuhören, wenn er von seinem Glauben erzählt.

Aber das ist anstrengend.
Glaubwürdig sein ist anstrengend, ja. Lügen ist deutlich leichter. Vor allem sich selbst gegenüber.

Was ist dem Menschen Gottfried Locher die liebste Szene in der Ostergeschichte? Und welche Szene aus den Evangelien prägt ihn?
In den Evangelien: z.B. die Geschichte des Hauptmanns von Kapernaum. Der Hauptmann sagt zu Jesus: Du kannst meinen Knecht zuhause heilen, sogar ohne überhaupt in mein Haus zu kommen: «Sprich nur ein Wort!» Diese vier Wörter, vier Silben, das ist das kürzeste Glaubensbekenntnis, das ich kenne. Der Satz ist so stark, dass viele Kirchen ihn bis heute bei jedem Abendmahl sprechen. Und in der Ostergeschichte: Da ist es der Augenblick, da der Engel sagt, «fürchtet euch nicht!» Offenbar waren die Frauen zu Tode erschrocken, als sie das leere Grab sahen. Damit hatte niemand gerechnet. Jesus war tot und alle Hoffnung war verloren. Wenn keiner mehr daran glaubt, ausgerechnet dann greift Gott ein, dann, wenn niemand mehr etwas erwartet. Freut sich jemand darüber? Zuerst kommt nur der Schreck, das «Oster-Erschrecken» über den, der stärker ist als der Tod. Die Freude kommt, sicher, das Osterlachen, aber nicht sofort. Zuerst erschrecken wir. So beginnt Ostern. Interview:

kr/jm

Hinweis:
Gottfried Locher wird noch am Palmsonntag, am Gründdonnerstag, am Karfreitag, in der Osternacht und am Ostersonntag in der Dreifaltigkeitskirche Bern predigen. Die Zeiten finden Sie auf der Website der Pfarrei Dreifaltigkeit.