Mons Fractus ist der lateinische Name des Pilatus, der gespaltene, zerklüftete Berg. Foto: wikimedia

Pilatus, die Hohepriester und Jesus

Über den Prozess und die Rolle des römischen Statthalters Pilatus

Wer war Pilatus? Sandro Fischli wagt eine Betrachtung und räumt mit den gängigen Bildern auf.

von Sandro Fischli

Mit einer Freundin komme ich auf Pilatus zu sprechen, auf dessen Verhalten gegenüber Jesus. Ich stelle bei ihr die gleiche Interpretation fest, der auch ich lange aufsass: Pilatus als jemand mit einem Mitgefühl und Interesse an Jesus, der sich dann allerdings zuschulden kommen liess, sich den Sachzwängen zu beugen. Diese Auslegung scheint seit der Antike bis heute verbreitet. Der Philosoph Giorgio Agamben spricht von einer «weissen Legende», einer edlen Zeichnung des römischen Statthalters.

Eine Karfreitagspredigt von Manfred Ruch vor vielen Jahren hat mich dann eines Besseren bzw. eines Schlechteren belehrt. Noch viel pointierter als Agamben schildert der lange in Lateinamerika wirkende, am 23. Juli 2023 verstorbene Franz Hinkelammert die Rolle von Pilatus im Prozess anhand des Johannesevangeliums. Mit der Befreiungstheologie verbunden, kannte er die Machtverhältnisse in jenen Ländern gut. Seine Gedanken werden hier in einer Nacherzählung zusammengefasst, weder um Pilatus weiter weichzuzeichnen, noch um die Hohepriester zu verurteilen, was zur Urszene des Antijudaismus wurde. Die Geschichte ist nämlich viel vertrackter.

Passion

1. Da die Römer diesen Prozess führen müssen, bringen die Hohepriester Jesus zum Herrschaftssitz von Pilatus. Sie betreten den Palast jedoch nicht, um sich vor der Passahfeier nicht zu verunreinigen. Pilatus sieht sich gezwungen, zu ihnen hinauszugehen. Ihm sind die jüdischen Gesetze egal, aber er muss sie respektieren, weil Jerusalem vom Kaiser Autonomierechte erhielt. Er fühlt sich beleidigt durch ihre Weigerung, sein Haus zu betreten. Es ist die Wut, das Ressentiment der Macht, wenn sie mit Autonomierechten zusammenstösst. In diesem Sinne ist ganz Jerusalem, ob jüdischer Klerus, ob Jesus, für Pilatus gleich lästig.

2. Pilatus fragt die Hohepriester nun, wie ihre Anklage lautet. Sie waren aber gekommen, damit er Ankläger und Richter werde, wegen Jesu Anmassung, König der Juden zu sein. Ihr Verhalten ist ausweichend; Pilatus spürt genau ihre Furcht vor einer römischen Intervention und wie sie dem durch die Auslieferung Jesu aus Staatsraison zuvorkommen wollen. Pilatus verspottet sie in ihrem Dilemma mit den Worten: «Nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz.» Sie weichen weiter aus, ihr Gesetz sehe zwar eine Todesstrafe vor, zu der sie aber eine römische Zustimmung benötigen würden. Nach dieser fragen sie nicht offen. Pilatus spielt mit ihrer Furcht.

3. Pilatus zieht nun das Gerichtsverfahren an sich, indem er Jesus verhört, allerdings ohne eine Anklage, die unausgesprochen im Anspruch des Königtums liegt. Jesus spricht die bekannten Worte, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei; er will nicht König der Juden sein. Ein Reich zu haben, ohne König zu sein, das ist Pilatus zu hoch, und er hakt nach, «also bist du doch ein König?». – «Du sagst es», erwidert Jesus und spricht weiter, er zeuge von der Wahrheit. Pilatus tut diese Worte einfach mit dem schnoddrigen Ausruf ab: «Was ist (denn schon) Wahrheit?» Weit entfernt von einer auch mir lange geläufigen Interpretation eines Interesses von Pilatus an Jesu Antwort!

4. Hier könnte der Prozess zu Ende sein. Wir müssen davon ausgehen, dass das Urteil gefallen ist. Aber Pilatus spielt weiter seine erpresserische Komödie der Macht: Er geht hinaus zu den Hohepriestern mit den Worten, er finde keine Schuld an Jesus, er sei bereit nach Passah-Brauch, ihnen einen Gefangenen, «den König der Juden», freizugeben. Hier ist die Wortwahl entscheidend: Er bietet nicht die Freilassung Jesu an, sondern des Königs der Juden. Pilatus stellt damit klar, dass er Jesus UND die Hohepriester zusammen kreuzigen lassen wird, wenn sie die Freiheit dieses Königs annehmen, denn dann hätten die Priester das gleiche Verbrechen begangen, welches Pilatus Jesus (dauernd unausgesprochen) vorwirft. Pilatus behandelt die Hohepriester nun wie Komplizen Jesu. Wie schon erwähnt, ist er diesem Volk nicht wohlgesinnt, das auf seinen Autonomierechten besteht. Er hat die Priester nun in der Hand, sie sind seinen Drohungen gegenüber wehrlos. Dieses Angebot mussten sie zurückweisen.

5. Pilatus befiehlt nun, Jesus zu geisseln, womit die Prozedur der Kreuzigung begonnen hat. Er beendet seine grausame Komödie nicht, er führt den Gefolterten vor mit den Worten, er fände keine Schuld an ihm, und mit dem berühmten Spruch «Das ist/siehe der Mensch». Diese Worte sind das absolute Gegenteil einer Regung von Mitgefühl. Es ist die Zurschaustellung, was Macht mit Menschen machen kann. Warum diese blutigste Ironie?

Es ist klar, dass Pilatus die von ihm entschiedene, aber immer noch nicht ausgesprochene Verurteilung vonseiten der Hohepriester hören will. «Das ist ein Mensch» heisst, das kann ich auch mit euch und mit allen tun, die der Macht in die Quere kommen. Ihr Ausruf «ans Kreuz mit ihm» ist die Unterwerfung unter seine Komödie. Ebenso bedeutet er aber bis heute, dass Pilatus nun der Unschuldige und sie die Schuldigen sind. Möglicherweise sah Pilatus Konflikte in Jerusalem voraus und wollte Rom aus dieser Sache heraushalten, indem er die Hinrichtung Jesu als rein jüdisches Problem darstellen wollte. Das scheint ihm in vielen Auslegungen bis heute gelungen zu sein.

6. Nach dieser Unterwerfung setzt Pilatus seine Erpressung aber weiter fort. Ihr «ans Kreuz mit ihm» genügt ihm nicht; wieder entgegnet er – obwohl die Prozedur dieses grausamen Todes begonnen hat –, «nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn», obwohl er weiss, dass sie dies nicht tun können: Das kann nur Rom. Sie können nur schlussfolgern, dass er ihre Loyalitätsbezeugung für den Kaiser will, der sie sich wohl nicht entziehen können.

7. Die Hohepriester sind erneut in der Falle: Eine solche Loyalitätserklärung tangiert ihren Glauben. Aus dieser Falle gehen sie zum Angriff über: «Nach unserem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat.» In Joh 19,8 geht es unmittelbar damit weiter, dass sich Pilatus nun fürchtet. Zuvor war nie von einer Furcht bei ihm die Rede. Was ist da geschehen? Für Pilatus als Römer gibt es nur einen einzigen Menschen, der als Sohn Gottes gilt: sein Kaiser. Wenn er diese Anklage nicht ernst nimmt, duldet er jemanden, der sich nebst dem Kaiser diesen Titel zulegt; wenn er die Anklage ernst nimmt, verurteilt er indirekt auch den Kaiser dieser Anmassung. Von nun an spielt Pilatus nur noch seine Macht aus, ihn zu töten oder freizulassen.

8. Pilatus wendet sich nochmals an die Hohepriester und bezeichnet Jesus wiederholt als ihren König. Diese geben nun die eingeforderte Loyalitätserklärung ab: Sie hätten keinen anderen König als den Kaiser. Eine rein weltliche Erklärung. Sie haben Pilatus ausgetrickst, allerdings unter Risiko  ihres eigenen Lebens. Sie hatten mit ihrer Aussage ja auch den Kaiser angeklagt! Pilatus weiss das, kann aber nichts dagegen tun. «Da lieferte er ihn an sie aus, dass er gekreuzigt werde.» Von seinen römischen Henkersknechten. Trotz aller Erpressungsversuche hat er nichts erhalten als eine Erklärung ohne Wert.

(Jesus erlitt danach eine der schlimmsten Todesarten, die sich Menschen ausdenken konnten. Und wenige Jahrzehnte später wurde der Tempel von den Besatzern zerstört, nicht etwa als Strafe Gottes für Jesu Tod, sondern weil die Juden dem Kaiser kein Opfer mehr darbrachten. Mit dem jüdischen Krieg begann ihre jahrtausendelange Vertreibung. Das politische Kalkül der Hohepriester war umsonst, die römische Übermacht siegte. Und in der Apostelgeschichte und in den Worten von Paulus zeigt sich immer wieder diese Schuldzuweisung an «die Juden» von Männern, die selbst Juden waren. Auch die aktuellsten Redaktionen des Neuen Testaments haben bis heute nicht zu anderen Formulierungen gefunden.)
 

Literatur
Giorgio Agamben: Pilatus und Jesus. 2014. Matthes & Seitz, Berlin. Franz J. Hinkelammert: Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung. 2001. Edition Exodus, Luzern.