«Ich fühle mich geführt. – Wenn ich etwas brauche, bekomme ich es.» Frédéric C. Foto: Ruben Sprich

Pilger auf dem Jakobsweg: «Ich fühle mich geführt»

25.07.2024

Frédéric C. wandert nach Jerusalem - via Pilgerherberge Brienzwiler.

Beim Pilgern suchen Menschen nach dem Sinn ihres Lebens. Manche finden ihn, so wie Frédéric C. Auf seinem Weg nach Jerusalem übernachtete er in der Pilgerherberge Brienzwiler.

Sylvia Stam

«Ich laufe nach Jerusalem. Ich trage die Anliegen vieler Menschen mit, denen ich seit meinem Start in Le Puy (F) begegnet bin: Sorgen, Genesungswünsche, Bitten.»

Frédéric C. (43) kommt an diesem Regentag kurz nach 16.00 in der Pilgerherberge Brienzwiler an. Gestartet ist er um 09.00 in Interlaken, rund 23 km hat er hinter sich. «Ein untypischer Pilger», sagt Julia Rüthy (29), die diese Woche zusammen mit ihrer Mutter Brigitte Scheuner (56) die Herberge betreut. «Er läuft den Jakobsweg in umgekehrter Richtung.»


Während Julia Rüthy zusammen mit ihrer Mutter den Znacht vorbereitet, ruht der Pilger einen Moment aus, ehe er, frisch geduscht, zum Nachtessen erscheint. Halb auf Französisch, halb auf Englisch erzählt er, weshalb er diesen Weg unter die Füsse nimmt. Seine Pilgerwanderung ist für den Franzosen ein spiritueller Weg, auch wenn ihm das nicht von Anfang an bewusst war.

«Manchen kommen erst beim Laufen Gründe, die sie vorher nicht kannten», sagt auch Julia Rüthy, die den Jakobsweg vor wenigen Jahren von Konstanz bis Genf gelaufen ist.

Aus Denkmustern ausbrechen

«Ich fühle mich geführt», erläutert C. , während er mit den Herbergsmüttern am Tisch sitzt. «Wenn ich etwas brauche, bekomme ich es.»


Geld hat er wenig bei sich. Was ein wenig fantastisch klingt, erläutert er anhand von Beispielen: «Unterwegs schenkte mir eine Frau eine Essenz gegen Blasen. Kurze Zeit später hatte ich tatsächlich Blasen an den Füssen und war sehr froh um das Fläschchen.» Er erzählt von Menschen, mit denen er ins Gespräch kam und die ihm sein Bier bezahlten. Von einem Pouletverkäufer kosovarischer Herkunft, der ihm seine Adresse im Kosovo gab, als er sagte, er laufe auf seinem Weg nach Jerusalem etwa im Oktober durch dieses Land.

Das Leben ist einfach

Julia Rüthy erzählt weniger spektakuläre Geschichten. Doch auch sie kennt die Erfahrung: «Beim Pilgern bricht man aus den eigenen Denkmustern aus.» Der Weg mache einen freier im Denken. «Was vorher wichtig war, ist es jetzt nicht mehr.»

Für Frédéric C. gilt das in extremem Ausmass: Ehe der Elektrotechniker zum Jerusalempilger wurde, führte er ein Leben «comme tous le monde», ein ganz gewöhnliches also. Inzwischen hat er alles verkauft und wird nicht nach Frankreich zurückkehren. Jerusalem ist als Training gedacht, sein eigentliches Ziel ist Kambodscha.

Am liebsten möchte er dort in einer Gemeinschaft leben, die vom Tauschen lebt. Und er möchte Kindern helfen, in irgendeiner Form. Die westliche Arbeitswelt hingegen will er hinter sich lassen. Was er sagt, klingt weder schwärmerisch noch ideologisch. Sondern als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Und genau so sagt er es auch: «Das Leben ist einfach, das Leben ist schön!» Das ist denn auch seine Mission: Wenn man den Auslöser findet, können Menschen sich von ihren unnötigen Ängsten befreien, «damit sie Freude am Leben haben!»

Bei sich selbst angekommen

Dazu arbeitet C. vor allem an sich selbst: «Beim Gehen nehme ich meine Umgebung ganz bewusst wahr: Ich höre Vögel, ein Flugzeug, meine Schritte auf dem Kies. Dann beobachte ich, was für Gefühle das in mir auslöst.» Dasselbe mit den Augen, dem Riech- und dem Tastsinn.


«Früher pilgerte man, um Busse zu tun, heute pilgert man für sich selbst. Oft geht es um die eigene Sinnfindung», sagt Julia Rüthy. Ihre Mutter bestätigt: «Du hast beim Pilgern deinen eigenen Lebensrhythmus gefunden, bist richtig bei dir selbst angekommen!»

Brigitte Scheuner hat inzwischen die Süssmostcreme aufgetischt. Wo Frédéric C. auf seiner nächsten Etappe ankommen wird, weiss er noch nicht. «Oft öffnen sich wundervolle Türen. Ich sage mir: Hab Vertrauen. Das hilft.»

Pilgerherberge Brienzwiler
Die Pilgerherberge liegt zwischen Brienz und Brünigpass, direkt am Jakobsweg. Betreut wird sie von Freiwilligen. Es stehen zwei Fünfbettzimmer für Pilgerinnen und Wanderer zur Verfügung. Die Nacht kostet mit Pilgerpass Fr. 26.–, ohne Pilgerpass Fr. 36.–.
pilgerherberge-brienzwiler.ch


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