Ihre Haut und ihr Leben erinnern an ein Wimmelbuch… Foto: istock
Privilegiert
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Ihre Haut erinnert mich an die Wimmelbücher, die meine Kinder so geliebt haben. Der ganze Körper ist übersät mit kleinen Zeichnungen, viele davon selbst gestochen. Ob je jemand mit ihr vor dem Einschlafen in solchen Büchern geblättert hat?
Ihr Leben beginnt mit dem Heroinentzug auf der Intensivstation für Neugeborene. Danach die üblichen Stationen: Kinderheim, kurze Aufenthalte bei der Mutter oder der neuen Partnerin des Vaters, Pflegefamilie, Notunterkünfte, Schulheim, Jugendheim. Jetzt lebt sie wieder bei der Mutter. Eine Lehre hat sie nach kurzer Zeit abgebrochen. Auch ihr Leben ist ein Wimmelbuch, das sie offen vor mir ausbreitet. Sie scheint sich gewohnt zu sein, von sich zu erzählen, von Helfenden umgeben zu sein.
Während sie redet, erscheint mir das Bild eines mutigen Mädchens, das sich mit blossen Händen durch den dichten Dschungel kämpft. Mit der Zeit schaut sich das Mädchen von den Erwachsenen Strategien ab, beruhigt Angst und Schmerz mit diversen Substanzen. Wir sitzen uns gegenüber im Spitalzimmer. Die junge Frau wirkt feingliedrig und zart. Ich möchte gerne ihre Gedanken auf neue Wege locken. «Wo möchten Sie hin, wenn sie sich vorwärts kämpfen? », frage ich. Sie weiss es nicht. «Wie möchten Sie leben, was tun Sie gerne?» Sie schaut mich an, als wäre ich eine Ausserirdische. «Wofür möchten Sie Ihre Energie einsetzen?» Keine Antwort. «Sie zeichnen bestimmt gerne!» – «Ja, aber meine Augen …» Genau, wie konnte ich vergessen, dass sie wegen ihrer schwindenden Sehkraft hier ist! Ich fühle mich blöd und privilegiert und ratlos.
Typischerweise gehe ich aus der Perspektive der Privilegierten davon aus, dass Menschen bloss etwas individuell «richtig» machen müssen – zum Beispiel den Fokus verändern –, statt mir zu überlegen, welche Veränderungen eine Gesellschaft braucht, um jedem Menschen gute Perspektiven zu ermöglichen. Wie bequem mache ich es mir von der Distanz der Beratenden, der Zuhörenden aus? Das hat ja alles nichts mit mir zu tun. Oder doch?
If you’ve come to help me, you’re wasting your time. But if you’ve come because your liberation is bound up with mine, then let us work together. (Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit. Wenn du aber gekommen bist, weil deine Freiheit mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten.)
Lilla Watson, Aborigine-Aktivistin
Marianne Kramer, ref. Seelsorgerin, marianne.kramer@insel.ch