Die Zeiten ändern sich und damit auch der Religionsunterricht: Alina Vögtlin und ihr Vater André Wiget erzählen davon. Foto: Pia Neuenschwander
Religionsunterricht früher und heute
Verschiedene Generationen erzählen.
Wir haben bei Kindern, Jugendlichen, Eltern und Grosseltern nachgefragt: Wie haben Sie Ihren Religionsunterricht erlebt? Was war schön, was nicht? Was hätten Sie sich anders gewünscht? Was vergessen Sie nicht so schnell? Was lernt man heute im Unterricht? Verschiedene Generationen erzählen.
Aufgezeichnet von Anouk Hiedl
Fotos: Pia Neuenschwander
«Die Priester sind gut auf uns eingegangen»
Ich hatte von der 2. bis zur 9. Klasse in der Pfarrei Dreifaltigkeit Unterricht. In der Schule war ich vom reformierten Religionsunterricht suspendiert. Damals gab es noch keine Katechetinnen, aber viele Priester. Wir sassen in unseren Bänken, und der Priester referierte vorne, jedes Jahr ein anderer. Ab und zu wurden wir auch einbezogen. Als Basis für den Unterricht diente der katholische Katechismus. Als Hausaufgaben mussten wir Teile daraus lesen. Auswendig mussten wir nur die zehn Gebote, die sieben Sakramente und manche Gebete wie das Vaterunser oder das Glaubensbekenntnis können.
Einmal bekamen wir vorgedruckte Blätter mit einer Geschichte von Jesus und seinen Jüngern, die wir zu Hause ausmalten. Für das schönste Werk gab es einen kleinen Preis. Die Priester vermittelten uns die biblischen Geschichten und katholischen Grundsätze gut und gingen auf uns Kinder ein. Ich ging gerne hin, auch wenn es keine besonderen Aktivitäten oder Ausflüge gab.
Einzig die bis zur 4. Klasse kontrollierte Pflicht, einmal pro Monat beichten zu müssen, hat mir nicht so gefallen. Rückblickend sind mir vor allem die Jahre bis zur Erstkommunion präsent. Für dieses Fest und auch sonst kam man damals noch zu Fuss im Anzug und mit Krawatte aus den Berner Quartieren in die Dreifaltigkeitskirche. Ich war gut in die Pfarrei eingebunden, war in Wabern in der Jungwacht und habe bis 16 ministriert. Unsere Aufgaben waren dieselben wie heute.
Die Messe feierten wir noch nach dem alten lateinischen Ritus. Ausser der Predigt bekam ich so nicht viel von der Messe mit. Heute finde ich es wichtig, dass der Religionsunterricht in der Nähe stattfindet und man mit Klassenkameraden hingehen kann. So besteht die Gemeinschaft im Alltag und auch im Religionsunterricht.
«Wir wurden mit einbezogen»
Ich hatte von 1989 bis 1998 Religionsunterricht. Für mich war es jeweils sehr schön, in Ostermundigen meine Freunde aus Ittigen und Bolligen zu treffen. Der Unterricht war frei und offen gestaltet, und wir wurden mit einbezogen. Wir behandelten Themen wie Teilen, Zusammenhalt und Gefühle, z. B. Trauer oder Freude. Und wir lernten Lieder, hörten Geschichten und haben gebastelt. Das Zusammensein mit den anderen Kindern und unsere beiden Lager am Schwarzsee und in Assisi haben Spass gemacht.
Am Mittwochnachmittag Unterricht zu haben, war etwas schwierig, vor allem im Sommer, wenn die reformierten Kinder aus meiner Schulklasse in der Badi waren… Ich habe schöne Erinnerungen an meine Erstkommunion und Firmung und noch heute Bekanntschaften aus dieser Zeit. Heute lernen meine Kinder im Religionsunterricht Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen, einander zuzuhören, sich zu versöhnen und auf sich selbst Acht zu geben.
Der Unterricht ist vielseitig, sie singen, spielen, basteln, lösen Rätsel, hören Geschichten und verbringen Zeit in der Kirche. Der Unterricht ist dem heutigen Schulsystem angepasst, mit Rücksicht auf den Stundenplan und die Bedürfnisse der Schüler:innen und Eltern. Familienfeiern mit Spiel, Spass und gemeinsamen Essen finde ich sehr schön.
«Die Gassenküche vergesse ich nie»
Bis zur 7. Klasse hatte ich Religionsunterricht in Ittigen. Die Hälfte von uns kam wie ich aus Bolligen, es war eine nette und angenehme Gruppe. Insgesamt hatte ich vier super Lehrer:innen, ich freue mich noch jetzt, wenn ich sie irgendwo treffe. In der 5. Klasse haben wir den Aufbau der Bibel gelernt, um sie besser zu verstehen. Wir haben das mit einem Spiel gemacht, bei dem alle Süssigkeiten gewinnen konnten, das war natürlich toll. Ich fand die verschiedenen Perspektiven der Evangelisten sehr spannend.
In der 8. und 9. Klasse hatte ich drei Wochenend-Workshops, bei denen wir zum Beispiel auf einem Bauernhof im Stroh übernachtet haben. Solche Workshops sind echt super, davon sollte es mehr geben! Würden sie früher stattfinden, könnte man schon eher mehr Leute kennenlernen. Mein prägendstes Erlebnis war jenes in der Gassenküche, wo wir mit Obdachlosen gekocht haben. Die wenigen Stunden dort waren sehr intensiv, das werde ich nie vergessen.
Nach fünf Vorbereitungstreffen wurde ich letzten Juni gefirmt. Der Unterricht machte früher mehr Spass, da hatten wir einen stärkeren Zusammenhalt. Schade fand ich auch, dass wir gegen Schluss in fixen Gruppen waren. Leider kollidierte der Religionsunterricht oft mit Freizeitangeboten. Deshalb hatte ich ab und zu keine Lust hinzugehen. Grundsätzlich bin ich aber gerne gegangen!
Ich bin dankbar für die lieben Menschen, die mich im Unterricht begleitet haben, auch für die vielen jungen Leute, die sich schon so in der Kirche einsetzen. Es tut gut, mit ihnen zu reden. Im Unterricht haben sie uns wichtige Werte vermittelt, etwa, dass man jedem Menschen hilfsbereit und freundlich begegnet. Ich habe gelernt, dass ich meine Religion ganz wie ich will ausleben kann – alle können das – und dass alle Menschen wertvoll und geliebt sind, ganz besonders von Gott. Ich habe auch viele Kirchenlieder kennengelernt, die Melodien sind wunderschön. Singen macht mir nur unter der Dusche und in der Kirche Spass.
Kurz und bündig
Alina Vögtlin: Im Religionsunterricht macht mir alles Spass. Ich lerne etwas. Die biblischen Geschichten, etwa die vom verlorenen Sohn, vergesse ich nicht so schnell. Leider ist der Unterricht nicht während der Schulzeit. Das würde ich mir anders wünschen.
«Unser Pfarrer unterrichtete nicht nach Schulbuch»
André Wiget: Ich besuchte den Religionsunterricht bis 1983 in Wald ZH. Unser Pfarrer Adalbert Ambauen war absolut super! Im letzten Jahr war der Unterricht freiwillig. Ausnahmslos alle katholischen Kinder besuchten ihn, und auch viele reformierte Kinder nahmen daran teil. Unser Pfarrer unterrichtete uns wohl nicht nach Schulbuch. Bei schönem Wetter fuhr er uns oft in seinem VW-Bus irgendwo in ein Gartenrestaurant und spendierte uns allen ein Coupe. Das war immer toll. Wir haben oft über aktuelle Themen und Konflikte in der Welt diskutiert und einzelne Stellen der Bibel gelesen. Der Pfarrer erläuterte uns diese und brachte uns bei, dass man die Bibel nicht wörtlich nehmen müsse. Die Welt sei nicht in sieben Tagen erschaffen worden – stattdessen sprach er über die Evolution und dass die Schöpfungsgeschichte lediglich die Reihenfolge darstelle, wie sich alles entwickelt habe. Auch viele andere Geschichten nahm er mit uns durch, zeigte uns Parallelen zur biblischen Zeit auf und erklärte uns, was man daraus lernen könnte. Das war immer sehr interessant. Auch seine organisierten Lager waren immer sehr beliebt und voll ausgebucht. Sein Lieblingsspruch war: «Mit Gott habe ich kein Problem, aber manchmal mit seinem Stellvertreter in Rom.» Sein Unterricht war sehr anschaulich und auf das reale Leben bezogen. Er hat uns beigebracht, christliche Werte zu leben und umzusetzen.
«Ich zweifelte schon damals, dass dauernd ein Engel über mich wache»
Ich ging von 1957 bis 1961 in Zurzach AG in den reformierten Religionsunterricht. Eine Stunde pro Woche, meistens ein Vortrag des alten Pfarrers Steinbrück, und das war’s. Viel ist davon nicht hängen geblieben. Jedenfalls hat’s mich gefreut, dass wir da nicht auch noch Hausaufgaben machen mussten. Vor der Konfirmation wurde der Unterricht intensiviert.
Was die Lebensform eines Christen ausmacht, damit war ich einverstanden. Mühe hatte ich hingegen mit der Versprechung auf ein ewiges Leben. Zudem konnte ich mir den Himmel oder gar die Hölle überhaupt nicht vorstellen. Dass dauernd ein Engel über mich wache, dass der Herrgott alles sehe usw., daran zweifelte ich schon damals.
Mein schönstes Erlebnis war, dass wir Konfirmanden oft die Kirchenglocken läuten durften, damals noch mit Muskelkraft. Ich weiss nicht mehr, ob wir ein Konfirmationslager hatten. Die Unterrichtsform war halt der Zeit entsprechend, und wir hatten einen alten Pfarrer, der sich nicht mehr gross auf die Jugendlichen einliess. Nach der Konfirmation habe ich mich dann kaum mehr in kirchlichen Kreisen bewegt.
Als Lilly, meine katholische Frau, und ich kirchlich heiraten wollten, beschied uns das katholische Pfarramt, dass dies nur möglich sei, wenn ich mich schriftlich verpflichte, unsere Kinder katholisch zu erziehen. Mit Murren habe ich unterschrieben und gemerkt, wie kirchliche Macht eingesetzt und verteidigt wird. Das Ganze hatte aber auch eine gute Seite: Unser Sohn André besuchte in Wald ZH den kirchlichen Unterricht beim katholischen Pfarrer Adalbert Ambauen. Dieser hielt die ganze Pfarrgemeinde in Schwung und verstand sich mit den Jungen bestens. Oft hörte man von ihm auch während der Predigt einen passenden Witz statt eines Bibelspruchs.
Pfarrer Ambauens grosse Sorge war das Bistum Chur, dem unsere Pfarrei unterstand. Dort sass das «Bodenpersonal» mit dem er so grosse Mühe hatte. Jedes Jahr hätte eigentlich der Bischof von Chur kommen sollen, um die jungen Leute hier zu firmen. Doch Wald ZH hat den Weiler Oberholz. Dieser gehört politisch zum Kanton St. Gallen. Zur grossen Freude Ambauens war fast jedes Jahr mindestens ein Oberholzer Kind zu firmen. Damit konnte das Bistum St. Gallen eingeschaltet werden und der unbeliebte Bischof von Chur hatte das Nachsehen.
Als Fotograf habe ich auch viele Hochzeiten mit Pfarrer Ambauen erlebt. Jahrzehntelang wollten junge Leute, die zu ihm in den Religionsunterricht gegangen waren, keinen anderen Pfarrer als ihn. So stand er denn jeweils vorne im Chor und erklärte den Brautpaaren auf ganz feine Art die Kniffe und Eigenheiten der Ehe.
Ich war zwei Mal im Unterricht unserer Enkelin Alina. Dort haben neben kirchlichen «Floskeln» auch Basteln und Feiern wie der Samichlausbesuch Platz. Das finde ich gut. Vorbereitung aufs Leben tut not, das Auswendiglernen von Gebeten, Psalmen usw. braucht es nicht.
«Wir hatten gute, schlechte und bedeutungslose Pfarrhelfer»
Ich hatte von 1953 bis 1961 in Wohlen AG pro Woche je eine Stunde Religionsunterricht. 1955 wurde ich auf die Kommunion vorbereitet und musste beichten lernen. Danach hatte ich das Gefühl, dass alles «rein» und ich ein kleiner schwebender Engel sei.
In der 5. Klasse kam die Firmung. Ich wusste nicht wirklich, was das bedeutete. In diesem Alter spielten wohl nur die Geschenke eine Rolle, vor allem die Uhr. Diese musste ich vor dem Schulunterricht abgeben, damit ich nicht zu oft auf die Zeit schaue, wie meine Lehrerin meinte.
Damals gab es in Wohlen verschiedene Pfarrhelfer: gute, schlechte und bedeutungslose. Bedeutungslos war zum Beispiel der Prälat, der während seines Unterrichts Vorträge hielt. Dabei haben wir Religionsschüler nur gezählt, wie oft er seine Lieblingsfloskel «Nid wahr» anbrachte. Über den Inhalt und Sinn seines Vortrags wurde nie diskutiert, und so ist davon auch nicht viel hängen geblieben.
Ein anderer Pfarrhelfer, der ein Blauringlager leitete, an dem ich teilnahm, war super. Er hat viele Spiele mit uns gemacht, und zum Schluss seines Unterrichts las er uns immer aus der Kriminalsatire «Dickie Dick Dickens» vor. Das genossen wir, und wir freuten uns stets auf die Fortsetzung.
In der Sekundarschule hatten wir einen gewalttätigen Pfarrhelfer. Wir wollten einen anderen und beschwerten uns beim Pfarrer. Dieser konnte oder wollte aber für keinen Ersatz sorgen. So haben wir die letzten drei Jahre mit ihm verbracht, und die beiden Burschen, die er regelmässig verprügelte, blieben dem Unterricht fern. Etwas Einfühlungsvermögen und Aussprachen über die Gefühle der Kinder hätte ich von diesem Pfarrhelfer schon erwartet. Es sollten nur Leute einen kirchlichen Beruf wählen, die Vorbild sein können.
Dieser Pfarrhelfer hat sich an einem Samstag zur Beichtstunde vor dem Altar in der Kirche in Wohlen erschossen. Warum wurde nie publik gemacht. Die entweihte Kirche war dann geschlossen, bis der Bischof sie wieder segnete. Ich finde es bedenklich, wenn Pfarrer als Gutmenschen Gräueltaten in der Gemeinde unter den Tisch wischen und predigen, wie man sich verhalten soll. Das wurde und wird heute noch von Bischöfen geduldet und nicht geahndet. So bin ich denn nach dem Debakel mit Bischof Haas in Chur aus der katholischen Kirche ausgetreten.
Im Unterricht hätte ich mir gewünscht, dass man mehr über das reale Leben erfährt und darauf vorbereitet wird. Bibelverse und Evangelien auswendig lernen ist für Kinder nicht geeignet, denn sie können den Sinn dieser Rituale nicht erfassen. Den Unterricht, wie ich ihn erlebt habe, gibt es nicht mehr, was ich auch begrüsse. Schon unser Sohn André hatte einen Pfarrer, der bei der Auslegung der Bibeltexte mehr Symbolik zu Hilfe nahm. Er hat mir auch erklärt, dass er mit dem Herrgott keine Probleme habe, sich aber dauernd mit dem Bodenpersonal herumschlagen müsse.
Bei unserer Enkelin Alina habe ich gesehen, dass sie im Unterricht auch basteln. Das finde ich wichtig, statt nur aufs Handy zu schauen. Kreativ kann man etwas bewegen, deshalb sollte man das fördern.