Romantisiert wird hier gar nichts
Für Sie gelesen. Tipps aus der Buchhandlung voirol
Für Sie gelesen. Tipp aus der ökumenischen Buchhandlung voirol
Zum 100. Geburtstag des Tessiner Schriftstellers Plinio Martini (1923–1979) ist im Limmat Verlag sein Auswanderer- und Liebesroman «Nicht Anfang und nicht Ende» in einer Neuauflage erschienen. Wenige haben das Landleben der Südtäler, mitsamt seiner Armut und Verzweiflung, so schön beschrieben wie er.
Um dem Hunger, der Armut und der Allgegenwärtigkeit des Todes im Maggiatal zu entfliehen, fasst Gori um 1927 den Entschluss, ins ferne Kalifornien auszuwandern. Zurück lässt er seine erste Liebe Maddalena, seine Familie mit den zahlreichen Geschwistern und seine Freunde. Auch wenn ihm in Amerika an Existenziellem nichts fehlt, so vergeht doch kein Tag, an dem er nicht von Heimweh geplagt wird: «Aber siehst du, wie schwer wir es dort auch hatten, mir schien, es gab, solange ich in Amerika war, keinen einzigen Tag, an dem ich nicht mit einem tiefen Seufzer an unser Tal gedacht hätte. Es liegt in der Natur des Menschen, sogar den Stechginster lieb zu gewinnen, wenn er mitten darin geboren ist, sogar eine Gegend, wo du dich nicht gemütlich ins Gras legen kannst, ohne dass die Kastanienschalen ihre Stacheln in den Hintern bohren.»
Wie Gori und seine Gedanken pendeln auch wir Leser:innen zwischen Amerika und dem Maggiatal hin und her und tauchen ein in die eindringlichen Schilderungen vom harten Alltag im Tal, in dem tragische Unfälle und Hungertode an der Tagesordnung waren. Romantisiert wird hier gar nichts. In umso leuchtenderen Farben erscheinen die gezählten Momente strahlendsten Glücks, die Gori kurz vor seiner Abreise mit Maddalena auf der Alp verbringt. Grau und farblos dagegen schildert er die Ranch in Amerika, die Lieblosigkeit im Umgang mit den Tieren, die konturlose Weite, die Einsamkeit.
Weder Maddalena noch das Gefühl sich irgendwo zuhause zu fühlen, sollte Gori je wiederfinden. Auch nicht, als er nach zwanzig Jahren von nie enden wollendem Heimweh getrieben zurück ins Tal kehrt.
«Nicht Anfang und nicht Ende» oder «Il fondo del sacco», wie es im italienischen Original heisst, ist ein Buch voller Kummer und Schönheit. Und ein grosses Stück Schweizer Literatur.
Selma Balsiger
Plinio Martini: Nicht Anfang und nicht Ende.
Limmat Verlag. Neuauflage 2023 (1974). 240 Seiten. Fr. 32.–