Was macht die Heiligsprechung aus dem Romero der Peripherie? Foto: Keystone/Laif/Patrick Tombola
Romero, die gelebte Nähe zu den Menschen
Welche Auswirkungen hat seine Heiligsprechung? Andreas Hugentobler hat sich Gedanken gemacht.
Seit Jahren schon verehren viele Menschen in El Salvador den ehemaligen Erzbischof Óscar Romero als Heiligen. Der salvadorianische «Anwalt der Armen» wurde vor 38 Jahren während einer Eucharistiefeier am Altar von rechtsextremen Todesschwandronen erschossen. Papst Franziskus gab nun bekannt, dass Romero am 14. Oktober in Rom offiziell heiliggesprochen werden soll.
von Andreas Hugentobler*, El Salvador
Bitte keine Mahnwache
Traditionsgemäss findet in San Salvador am Samstag vor dem 24. März, Romeros Todestag, eine Prozession zur Kathedrale statt. Organisiert wird sie von der Fundación Mon-señor Romero. Der Geist und die Gedanken Oscar Romeros sollen in Erinnerung bleiben. Der Umzug bekam dieses Jahr eine spezielle Note: Besammlung war wie üblich auf der Plaza Salvador del Mundo, danach Marsch ins Zentrum mit anschliessender Eucharistiefeier auf einer Bühne vor der Kathedrale.
Nach Beendigung des Gottesdienstes wurde mit dem Abbau der beachtlichen Bühne begonnen, das war quasi der offizielle Teil. Auf der anderen Platzseite rief gleichzeitig ein Moderator die vergleichsweise wenigen Versammelten zu einer Mahnwache zusammen. Diese wird seit 38 Jahren vor der Kathedrale abgehalten, aus Liebe zum Romero des Volkes. Künstler und Musiker spielen zur Erinnerung und zum Widerstand im Sinne des «Heiligen Romeros» ohne Entgelt. Eigentlich aber, ginge es nach der Fundación Mon-señor Romero, hätte die Mahnwache in diesem Jahr nicht mehr stattfinden sollen.
Ich frage mich: Ist dies eine erste Auswirkung der Heiligsprechung Romeros? Gehören die grossen Mobilisierungen für Romero in Verbindung mit zentralen Volksanliegen der Vergangenheit an? Wer entscheidet darüber, welche Tradition offiziell kirchentauglich ist und welche nicht mehr zum Heiligen passt?
Kardinal Rosa Chavez: Das Wunder des Heiligen
Gregorio Rosa Chavez, der «Kardinal Romeros», kommentierte Anfang März voller Freude die vatikanische Anerkennung des Wunders Romeros und schilderte, wie es unter Anrufung von Bischof Romero zur wundervollen Heilung einer von den Ärzten als todgeweihten schwangeren Frau kam. Der Kardinal rief im letzten Jahr zu einer aufsehenerregenden Pilgerreise (Fussmarsch) zum 100 km entfernten Geburtsort Romeros auf, als Dank für seine Kardinalsernennung und zur Feier des 100. Geburtstags des künftigen Heiligen.
Mit Nachdruck empfahl Kardinal Chavez das Fürbittgebet an Romero und bezeichnete die bevorstehende Heiligsprechung als «Geschenk für das Land» und als «Hoffnung, um Gewalt und Leiden zu überwinden und endlich in Frieden zu leben». Romero werde das Volk wieder vereinen.
Ich frage mich: Warum ruft Kardinal Rosa Chavez neben dem Pilgermarsch zum Romero-Geburtsort nicht auch auf zu einer breiten sozialen Bewegung in der Nachfolge Romeros? Es scheint mir wertvoll, für das «kleine» Wunder zu danken, doch wer generiert Bewegung, um für das «grosse» Wunder des Zugangs zu grundlegenden Menschenrechten zu kämpfen?
Wunder-Heiliger oder Kämpfer für Gerechtigkeit?
Der brasilianische Befreiungstheologe, Bischof und Dichter Pedro Casaldáliga bezeichnete Romero kurz nach seiner Ermordung als «San Romero de América, pastor y mártir nuestro» (Heiliger Romero von Amerika, unser Pastor und Märtyrer). Er meinte jenen Romero, der für alle Verdächtigten, Unbeachteten, Ausgebeuteten eingetreten ist; der Romero an den Rändern, den diese Leute schon längst heiliggesprochen haben. Er ist ihr Santo, weil sie ihn als ihren «goél» (Anwalt oder Fürsprecher im Volksgericht) im biblischen Sinne des Wortes anerkennen.
Ein soziologischer Sachverhalt, den Casaldáliga durch seine Nähe zur basiskirchlichen Bewegung hautnah erlebt und deshalb verstanden hat. Mit der Heiligsprechung Romeros wird ein anderes Konzept der Heiligkeit propagiert, für dessen Abschluss kein «sensus fidei», kein Glaubenssinn des einfachen Menschen, sondern die Erfüllung administrativer Vorgaben – ein wissenschaftlich nachweisbares Wunder – die bestimmende Instanz ist. Romeros Heiligsprechung ist die Angelegenheit einer Institution, deren Prozesse bürokratischen Vorgaben folgen – Romeros Heiligkeit dagegen ist eine Wahrheit im einfachen Volk.
Ich frage mich: Werden sich die beiden Konzepte – der Wunder-Heilige und der Gerechtigkeitsfordernde – nebeneinander halten? Was, wenn Oscar Romero im Interesse der Mächtigen in Kirche und Politik in Rekordtempo zu einem klassischen Heiligen verkommt, zu dem viel gebetet wird, der aber kaum mehr Befreiungsprozesse auslöst? Was, wenn San Romero mehr Nationalstolz beflügelt («Wir haben nun endlich auch einen Heiligen»), statt Widerspruch übt und soziale Konflikte anklagt?
Romero der Peripherien – «¡Ser su propia voz!» (Sei deine eigene Stimme)
Der offizielle Romero ist bereits jetzt zu einer Marke geworden, mit viel Form, Effekt und Marketing, jedoch wenig Inhalt. In zunehmendem Abstand zu diesem Markenprodukt steht der andere, unscheinbare Romero, der Romero an den Peripherien, der als Resonanzkasten der einfachen Leute am Rande ihre Hoffnungen und Forderungen verstärkt. Die Funktion des Resonanzkörpers ist die Übermittlung. Sein Ort: die Peripherie.
Seine akkustische Bandbreite: ultra-schwach – einzig hörbar für jene, die sich auf das schwache Signal seiner Bandbreite einlassen. Die 2017 zum 100. Geburtstag Romeros gegründete Plattform Generación Romero (www.generacionromero.wordpress.com) ist ein Beispiel: Sie versucht, auf dieser Bandbreite Übermittlungsarbeit zu leisten, um eine soziale Bewegung im Geiste Romeros auszulösen.
Derzeit gehören der Plattform über 30 Gruppierungen und Institutionen verschiedenster Couleur an, darunter Jugendgruppen, Bildungsbewegungen, Basisgemeinden, Selbsthilfegruppen von Sex- Arbeiter*innen, Theatergruppen, Radioteams, Sozial-Präventionsequipen und Landwirtschaftskooperativen – sie sehen in Romero eine Figur, die ihre eigene Stimme verstärkt und ihre Würde achtet.
«¡Ser su propia voz!», sie wollen ihre eigene Stimme hörbar machen und nicht warten, bis jemand sich ihrer Stimme annimt («voz de los sin voz» – die Stimme der Stimmlosen). Selbstverständlich setzt sich mit der Heiligsprechung auch das Rösschenspiel von Institutionen in Bewegung, die sich unter Berufung auf ihre Autorität zu Romero äussern: Kirchliche Leistungsträger werden von Gegnern zu Anhängern Romeros; in Pfarreien, wo über dem Opferstock früher das Bild einer Maria oder eines frommen Heiligen hing, zeigt San Romero nun mit seinem Zeigefinger in Richtung Himmel und animiert zur Spende; Bildungsinstitutionen, deren Theologie bislang hinterfragt wurde, betreiben eine beinahe «offizielle» Theologie, und Nichtregierungsorganisationen, die einst aus Basisprozessen hervorgingen, werden zu anerkannten Akteuren im Sinne Romeros.
Meine Hoffnung: Über Romero wird viel gesagt, geschrieben und produziert, doch vieles scheint mir ein Windhauch im Vergleich zu einer Einsicht, die ich in den Basisgemeinden lernte: Das Feld für den Erweis der Heiligkeit Romeros liegt einzig im Aufbruch des einfachen Volkes – kein wissenschaftlicher Wunder-Nachweis, keine Doktrin, keine Theologie vermögen dies zu leisten. Die Definition und Vermittlung von Inhalten ist das eine, etwas anderes aber ist die gelebte Praxis. Dazu müssen die Zentren (von Bildung, Religion, Institutionen) verlassen und die Bewegung hin zu den wenig strukturierten Gruppen, Behausungen und Fragmenten an den Peripherien gewagt werden. Praktische Theologie im Sinne Romeros wird so zum Resonanzkörper erlebter Realitäten an den Rändern, schreibt keine Inhalte nieder, sondern bewirkt Aufbruch, Ermutigung, sperrige Nähe und mutiges Aushalten.
Freundschaft in Nähe zum Volk
Abschliessend noch ein letzter Gedanke: Der berühmte Befreiungstheologe, Autor und Bildungsexperte Miguel Cavada, ein totaler «Eintaucher» in die peripheren Realitäten El Salvadors, prägte den Satz «¡Nunca se separen del pueblo! – Trennt euch nie vom Volk!» Die einzige Richtlinie für sinnvolle Arbeit ist die gelebte Nähe zum Volk. Und Romero erwiderte auf zahlreiche Anklagen der politischen Aufwieglerei stets, er sei «simplemente el pastor, el hermano, el amigo de este pueblo» (einfach der Pastor, der Bruder, der Freund dieses Volkes).
Meine Hoffnung: Dass Volksnähe und Freundschaft in einem enttäuschten Volk, das auch seiner politischen Hoffnungen beraubt wurde, einen Aufbruch in Richtung des grossen Wunders Romeros wecken werden.
*Andreas Hugentobler-Alvarez, Theologe. Er begleitet als Fachperson das Basisgemeinde-Netz «Mons. Romero» im Departement La Libertad/ El Salvador. Mehr zu seinem Einsatz
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«pfarrblatt» Nr. 22/2015: Zur Seligsprechung von Oscar Romero. Text von P. Franz-Xaver Hiestand SJ