Letzte Ruhestätte: eine Momentaufnahme. Foto: Sandro Fischli
«Sakrale Brache»
Ein Ort zwischen Leben und Tod: Betrachtung eines griechischen Friedhofs.
Ein griechischer Friedhof, an dem wir vorbeigehen, hohe weisse Mauern gewähren nur gerade einen Blick auf dichte, mächtige Zypressen, ich nehme mir vor, den Friedhof genauer in Augenschein zu nehmen, meine Begleitung wendet jedoch zu Recht ein, die Intimität dieser sehr dörflichen Atmosphäre nicht übergriffig mit Touristenblicken zu stören.
Autor: Sandro Fischli
Anderntags versammeln sich sehr viele Einheimische, gehen oder fahren hin mit Autos, Motorrädern, alles ist voll parkiert, immer mehr strömen herbei. Ein Begräbnis wird gleich stattfinden. Wir gehen diskret weiter. Im Dorfkern vorne hören wir von ferne Blasmusik, und nun erlauben wir uns, stehen zu bleiben und mitzuverfolgen, was geschieht. Die Musik wird lauter und sonntäglich gekleidete Menschen erscheinen, sie tragen weisse Stäbe, darauf runde weisse Scheiben aus dünnem Holz oder Karton, mit schwarzen Herzen bemalt und mit einem Kranz aus weissen Blumen verziert, wahrscheinlich aus Papier. Hinter ihnen tragen vier Männer einen mit Blumen bedeckten Sarg auf den Schultern, begleitet von einem schwarzgekleideten Popen mit seiner typischen Kopfbedeckung, jener Mischung aus Fez und umgekehrtem Zylinder, gefolgt von der Blasmusik, die Musikant*innen, alle uniformiert in weissen Hemden, schwarzen Krawatten und schwarzen Hosen mit goldgelben Streifen an der langen Seitennaht. Wir gehen wieder, unsere weiteren Blicke wären unangebracht.
Als wir zurückkehren, sehen wir Musikant*innen, die wir an ihrer Uniform erkennen, auf Motorrädern entgegenkommen, die Zeremonie scheint vorüber. Vor dem Friedhof steht noch die halbe Dorfbevölkerung, in einem Pavillon neben der Friedhofskapelle wird aufgeräumt, anscheinend nach einem Umtrunk und Imbiss, alle sind in angeregtem Gespräch.
Einen Tag später ist am frühen Abend die Strasse leer. Wir betreten nun den Friedhof durch eine Türe in der hinteren Mauer. Alle Gräber sehen gleich aus, was uns schon einmal gefällt, das wirkt immer würdig, weisse grosse hohe Marmorkreuze und davor niedrige, weisse Marmorsarkophage. Die Kreuze und die Sarkophage stehen und liegen alle unterschiedlich schief. Zwischen den Gräbern liegt Schutt, Erde, Kies, an Zweigen der Zypressen hängen Plastikbeutel mit irgendwelchen Utensilien für Grabpflege, von einer solchen ist allerdings nirgends etwas zu bemerken. Alles strahlt eine barocke Schäbigkeit aus, eine sakrale Brache, eine Hirschhorn-Installation. In einer Ecke liegen aufeinandergeschichtet stapelweise weisse Papierkranzschilder auf ihren Stangen, von vergangenen Begräbnissen. In einer anderen Ecke sind diese Standarten der letzten Ehre an die Friedhofsmauer gelehnt, wahrscheinlich vom Vortag, es war noch keine Zeit, sie besser aufzuräumen. Ehrwürdiger Abfall.
Einen Friedhofsgärtner kann sich die Gemeinde anscheinend nicht leisten. Ich empfinde etwas wie Zärtlichkeit bei meiner Betrachtung oder so etwas wie einen leicht amüsierten Ernst: Man lässt sich den Tod etwas kosten. Die Standarten- und Sargträger, die Blasmusiker, die Kirche, das Leichenmahl, der Marmor – all das will bezahlt sein. Danach ist nicht mehr viel übrig.