Winterzauber. Foto: svenmr/photocase
Schnee aus dem Garten Eden
Der winterliche Flockenfall bezaubert und setzt poetische Zeichen. Teil 1 der «pfarrblatt»-Winterserie.
Im ersten Teil dieser kleinen Serie geht es um die zauberhafte und verträumte Seite des Winters und welche Glücksgefühle Schneefall und eine frische Schneedecke auslösen können.
von Beatrice Eichmann-Leutenegger
«Es schneit, es schneit!» Wer hat nicht den Freudenschrei der Kinder im Ohr, wenn die ersten Flocken zu tanzen beginnen. Der Zauber dieses Naturphänomens erfasst Jahr für Jahr auch die Erwachsenen, und heute, da Schnee nur noch spärlich fällt, meldet sich Wehmut an. Wie ist die Welt jeweils so still geworden, wenn sich die Flocken auf Strassen, Feldern und Wäldern niederlegten, sodass alle Geräusche verschluckt wurden und jeglicher Schmutz versank. Und wie tanzten die Sternchen auf der Schneedecke, wenn am Morgen die Sonnenstrahlen auf sie fielen.
Doch traurig sah man später dem schwindenden Schnee zu, der sich zusehends in braunen Matsch verwandelte. Heute staunt man darüber, dass z. B. im Winter 1902/03 der Schnee wochenlang auf Berns Strassen liegenblieb. Die wenigen Autofahrer, kaum ein Dutzend, scherten sich nicht darum und stellten meist ohnehin ihren Wagen ein. «Der Winter ist ein rechter Mann,/ kernfest und auf die Dauer (…)», sagte Matthias Claudius.
«Weisst Du, wie mein Wintertraum aussieht?», fragte mich die Engländerin Jane, die auf der Isle of Wight lebt, wo es seit Jahrzehnten nicht mehr geschneit hat. «Ich möchte in einem warmen Schweizer Chalet sitzen, bei Kuchen und Tee, und den wirbelnden Schneeflocken zuschauen.» Gleich denkt man an die Kindheit zurück, als man die Nase am Fenster platt drückte und verwundert die Veränderungen im Garten beobachtete. Die Treppen erhielten einen samtenen Teppich, der steinerne Löwe trug eine Mütze, die Sträucher reckten nur noch wenige Zweige in die Luft.
Schon in den biblischen Sprüchen, im Lob der tüchtigen Frau, kann man nachlesen: «Ihr bangt nicht für ihr Haus vor dem Schnee;/ denn ihr ganzes Haus hat wollene Kleider» (31,21).
Dichter:innen hat der Schnee seit jeher entzückt. Viele Beispiele könnten angeführt werden, doch ins Zentrum soll die Aargauerin Erika Burkart (1922–2010) rücken. Sie hat den Schnee in ihrer Lyrik oft als Leitmotiv gewählt und unerwartete Aspekte freigelegt. So in diesem Gedicht, das wie die weiteren Zitate aus dem Lyrikband «Stille fernster Rückruf» (1997) stammt:
Schneefrühe
Weder untief noch tief,
genug, um den Blauen
Stern zu sehn:
Klarheit, entschärft,
die Felder befriedet,
Gelände Land.
Keine Spur.
Eine neue Erde
und ein neuer Himmel,
uns zugefallen
in dichter Nacht,
gebreiteter Glanz
einer Flockenheide,
unbegehbar
der Schnee von Eden.
Erika Burkart sieht im nächtlichen Schneefall das Wunder einer Neuwerdung, wie es die Offenbarung des Johannes ankündet: «Seht, ich mache alles neu» (21,5).
Der Schnee, frühmorgens noch frei von menschlichen Spuren, gerät zum Abbild des Paradieses. Einmal erhebt die Dichterin den Schnee auch zur «transzendenten Speise», wobei man an das Manna denkt, das in der Exodus-Szene vom Himmel fiel, um die Israelit:innen in der Wüste zu nähren. «Himmelsbrot» wurde es genannt, weil es überirdisch anmutete. Es schmeckte «fein wie Reif, knusprig und weiss» (2 Mos 16,13–16).
Beide Bilder der Dichterin verweisen nicht überdeutlich auf die Bibel, sondern begnügen sich mit zarten Anklängen. Gerade diese behutsame Art begründet die poetische Qualität. Die Poetin hat nicht nur aus der Bibel, sondern aus ihrer Lektüre der Literatur überhaupt vielfältige Inspirationen bezogen und diese in einen Subtext eingewoben, der zur Entschlüsselung einlädt.
Im Gedicht «Schnee essen» stellen die beiden letzten Strophen wiederum den Zusammenhang mit der biblischen Szene her, weisen aber mit dem gemeinsamen Essen auch voraus auf die neutestamentliche Eucharistie:
…Geheimes Weiss
Mit dem Wasserzeichen
Der unerhörten Erwartung.
Die zusammen essen,
kommunizieren.
Speise uns, Liebe,
mit Schnee.
Das Weiss des Winters, des Lichts, der leeren Buchseite: Die unbunte Farbe, die jedoch alle Farben in sich enthält, betört Erika Burkart. Wenn sie Weiss einsetzt, knüpft sie an die reiche Tradition dieser Farbe an, die Unschuld, Reinheit, Heiligkeit evoziert. Es spricht sich hier die Sehnsucht der Dichterin nach dem verlorenen Paradies frei.
Sie selbst hat Weiss auch für ihre Garderobe bevorzugt. Doch eignet dieser Wahl ein ambivalenter Charakter an, lassen doch weisse Kleider sowohl an das Brautgewand wie an das Totenhemd denken, was Erika Burkart im Gedicht «In eigener Sache» (aus «Schweigeminute», 1988) ausdrücklich darlegt. Doppeldeutig endet auch das Gedicht «Weiss» aus dem gleichen Band: …Bis zum Mund reicht das Schneien, das uns verbindet und trennt, schmeckt nach nichts, löscht das Schreien; Weiss. Die älteste Farbe. Sie brennt.
Die Variationsbreite solcher Texte lässt an Kurt Martis Satz denken: «Zum Glück hält Gott sich einige Dichter …» Und Dichterinnen, fügen wir an.