Bergbäuerin zählt auf die Mithilfe von Freiwilligen beim Heuen. Foto: Pia Neuenschwander

Schwarz auf weiss: Die Kirche dient der Gesellschaft

16.02.2024

Freiwilligenarbeit entspricht über 100 Vollzeitstellen

Die Politik forderte von den Landeskirchen einen Nachweis über ihre Leistungen. Die Katholische Kirche im Kanton Bern ist dem in Form eines umfangreichen Berichts nachgekommen. Er zeigt: Die Kirche bringt der Gesellschaft viel.

von Marius Leutenegger und Erik Brühlmann

Die Stimmung im Kirchgemeindehaus Herzogenbuchsee ist ausgelassen. Die Anwesenden freuen sich, einander zu sehen, sie umarmen und herzen sich, sind gespannt auf die bevorstehende Tombola – alles auf Italienisch. Denn der Nachmittag wurde von «Incontro over 60» organisiert.

Das Angebot der Missione Cattolica Italiana in Burgdorf wurde vor nunmehr elf Jahren ins Leben gerufen und richtet sich speziell an Seniorinnen und Senioren mit italienischen Wurzeln. «Uns fiel damals auf, dass es für diese Menschen so gar nichts gibt», erinnert sich Franca Pina Fabbricatore, «das wollten wir ändern.»

Seither organisiert das fünfköpfige Organisatorenteam regelmässig Zusammenkünfte, Ausflüge und vieles mehr. Das Team engagiert sich freiwillig und unentgeltlich. «Wir möchten der Gesellschaft etwas zurückgeben und hoffen, dass das dann später auch jemand für uns tut», sagt Franca Pina Fabbricatore.

Lotto!

Doch genug geredet, die etwa 25 Teilnehmenden warten schon. Die Tombola-Zettel sind verteilt, der Servierwagen mit den Preisen – alles Spenden aus dem Kreis der Anwesenden – ist gefüllt. Salvatore Bandello, der einzige Mann im Organisatorenteam, schüttelt das Säckchen mit den Zahlen, greift hinein und zieht die 62. Sofort verstummen die Gespräche, jetzt wird gespielt! 35, 73 … «Lotto!», ruft nach einer Weile eine Dame aufgeregt. Sie darf sich einen Preis aussuchen: vino, natürlich!

Das Zahlensäckchen leert sich, der Preiswagen ebenfalls. «Lotto!» «Tombola, finalmente!» Die Seniorinnen und Senioren haben sichtlich Spass. «Viele leben allein, das Zusammensein mit anderen tut ihnen gut», sagt Franca Pina Fabbricatore. Und sie schätzen es auch, dass die Tombola in den Räumlichkeiten der katholischen Kirche und nicht in irgendeinem Saal stattfindet. Als Missionar Don Grzegorz Korgul den Tombola-Saal betritt, wird er vom Kollektiv herzlich begrüsst. «Sie freuen sich, dass er zu unseren Veranstaltungen kommt und sich die Zeit nimmt, mit allen zu sprechen», weiss Franca Pina Fabbricatore.

Zwei Säulen

Veranstaltungen wie diese finden sich in allen Pfarreien und allen Pastoralräumen der Katholischen Kirche im Kanton Bern. Kochkurse, Ausflüge, Vorträge und geselliges Beisammensein – dies alles zählt zu den sogenannten «gesamtgesellschaftlichen Leistungen», welche die Kirche erbringt. Diese müssen seit dem Inkrafttreten des neuen Landeskirchengesetzes 2020 regelmässig in Form eines Rechenschaftsberichts zuhanden des Grossen Rats und des Regierungsrats ausgewiesen werden. Denn ab 2026 unterstützt der Kanton Bern die drei anerkannten Landeskirchen – Katholische, Reformierte und Christkatholische Kirche – neu in Form eines Zwei-Säulen-Modells.

Die erste Säule – im Fall der katholischen Kirche rund acht Millionen Franken – muss künftig für die Löhne der Seelsorgenden verwendet werden. Bei den meisten handelt es sich um Angestellte der Pfarreien. Die zweite Säule von zurzeit 4,37 Millionen Franken stellt der Kanton dann für die gesamtgesellschaftlichen Leistungen der katholischen Kirche bereit. Dieser Betrag wird alle sechs Jahre neu gesprochen, seine Höhe wird künftig auf den jeweiligen Berichten basieren.

Die Zeit bis 2025 gilt als Übergangsperiode, während der die Katholische Kirche im Kanton Bern noch pauschal jährlich zwölf Millionen Franken erhält.


Zahlen über Zahlen

Der erste Bericht für die Übergangsphase 2020 bis 2021 wurde im vergangenen Jahr fertiggestellt, an David Leutwyler übergeben, den Beauftragten für kirchliche und religiöse Angelegenheiten des Kantons Bern, und an die Räte verteilt – ein Mammutwerk von über 100 Seiten. «Wir haben lang daran gearbeitet», sagt Regula Furrer, Generalsekretärin der Katholischen Landeskirche und Co-Autorin des Berichts. «Und da wir so einen Bericht das erste Mal machten, bezahlten wir auch etwas Lehrgeld.»

Der Bericht «Kirche in der Gesellschaft» behandelt zunächst die finanziellen Aspekte der Landeskirche und der Kirchgemeinden. «Hier waren die Vorgaben des Kantons sehr klar», so die Generalsekretärin. Diese Zahlenberge zu beschaffen, war aufwendig – auch wegen der verlangten Einteilung in vier Leistungskategorien. Doch sie sind ein eindrücklicher Nachweis für die Aktivitäten der Kirche.

Es zeigte sich, dass die Kirchgemeinden und die Landeskirche in den beiden Berichtsjahren im Durchschnitt gesamtgesellschaftliche Leistungen in Höhe von über 40 Millionen Franken erbrachten. Knapp zwei Drittel davon entfielen auf die Leistungskategorien «Bildung», «Soziales» und «Kultur», rund ein Drittel auf die Kategorie «Kultus». «In Zukunft wird sich der Aufwand für das Erstellen des Berichts sicherlich verringern, da wir die Vorgänge jetzt sozusagen eingeübt haben», sagt Regula Furrer.

Freiwilligen-Potenzial

Eine grosse Stärke der Kirche ist, dass in Bereichen, die der Gesellschaft zugute kommen, viele Angebote dank Menschen erbracht werden können, die nicht oder kaum entschädigt werden: den freiwillig und ehrenamtlich Tätigen. Um diese Tätigkeiten erfassen und quantitativ auswerten zu können, richtete die Landeskirche eine Online-Datenbank ein.

Es war an den Kirchgemeinden, Pfarreien, Sprachgemeinschaften und Fachstellen, ihre Daten dort einzutragen. Zwar räumt der Bericht ein, dass so unter Umständen nicht das gesamte Volumen vollumfänglich erfasst wurde. Dennoch sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. So wurden 2020 insgesamt 246'694 Stunden Freiwilligenarbeit geleistet, was 117 Vollzeitstellen entspricht.
 

Freiwillige: unbezahlbar
40,120 Millionen Franken betrug 2020 und 2021 der durchschnittliche Wert der von den Kirchgemeinden und der Landeskirche erbrachten gesamtgesellschaftlichen Leistungen.

12,635 Millionen Franken betrug in den Berichtsjahren der theoretische Wert der geleisteten Freiwilligenarbeit.

29 Prozent der Freiwilligenarbeit entfielen auf die Kinder- und Jugendarbeit, 19 Prozent auf gesellschaftliche Anlässe, 13 Prozent auf Angebote für Seniorinnen und Senioren.

Das Volumen von 112,25 Vollzeitstellen wurde 2020 und 2021 im Schnitt von Freiwilligen geleistet.


Etwas weniger waren es 2021, auch aufgrund der Nachwehen der Pandemie. Doch auch in diesem Berichtsjahr wurden 225'774 Stunden Freiwilligenarbeit erbracht – 107,5 Vollzeitstellen. Wollte man diese Arbeit mit bezahltem Personal leisten, müsste man zwischen 12 und 13 Millionen Franken aufwenden.

«Die theoretische Monetarisierung der Freiwilligenleistung zeigt, dass der Gegenwert, der durch Freiwilligenarbeit innerhalb der röm.-kath. Kirche entsteht, höher ausfällt als der aktuelle jährliche Beitrag des Kantons», heisst es denn auch im Bericht. Oder anders formuliert: Der Kanton erhält viel Leistung für sein Geld. «Dieses Resultat war selbst für mich ein Aha-Erlebnis, auch wenn ich weiss, was die katholische Kirche und ihre Freiwilligen leisten.»

Engagement für die christliche Sache

Die Zahlen erstaunen auf den ersten Blick besonders, wenn man bedenkt, dass der Ruf der katholischen Kirche im Speziellen und der Kirche im Allgemeinen in jüngerer Vergangenheit gelitten hat; ganz zu schweigen von den stets medienwirksam verkündeten Kirchenaustritten. «Die Freiwilligen, die sich bei unseren Angeboten engagieren, tun dies nicht unbedingt, weil sie Kirchgänger sind», versucht Regula Furrer eine Erklärung. «Sondern, weil sie sich für ein Thema interessieren und sich dafür einsetzen wollen.»

Alternativen zur Kirche als Anbieter finden sich meist nicht – wer ausser der Kirche würde schliesslich einen Tombola-Nachmittag für zwei Dutzend Seniorinnen und Senioren durchführen? Natürlich gäbe es auch Angebote, die der Staat oder Private übernehmen könnten. «Aber dies würde mit bezahltem Personal teuer», so die Generalsekretärin. Und Freiwillige, ist sie überzeugt, liessen sich weder von Privaten noch vom Staat in ausreichender Zahl finden. «Freiwillige engagieren sich einfach nicht beim Staat.»


Kirchenarbeit wird noch geschätzt

Im qualitativen Rückblick legt der Bericht den Schwerpunkt auf ebendiese Freiwilligen und zeigt, in welchen Bereichen sie aktiv sind. An erster Stelle steht die Kinder- und Jugendarbeit mit einem Anteil von 29 Prozent, gefolgt vom Engagement für gesellschaftliche Anlässe (19 Prozent) und der Seniorenarbeit (13 Prozent).

Diese Top drei überraschen vielleicht durch ihre Reihenfolge, nicht aber durch ihre Inhalte. Dass sich die Kirchen in diesen Bereichen hervortut, weiss man eigentlich intuitiv. Müssten sie mehr Eigenwerbung betreiben, um sich damit in der Politik und der Gesellschaft deutlicher zu positionieren, nach dem Motto: Tue Gutes und sprich auch darüber?

Regula Furrer: «Sagen wir es so: Das Marketing der katholischen Kirche war sicherlich nicht ideal, deshalb werden viele unserer Aktivitäten nicht genug wahrgenommen.»

 

Andererseits sei die Tatsache, dass so viele Menschen Kirchensteuern bezahlen, obwohl sie selten oder nie in den Gottesdienst gehen, auch ein Zeichen dafür, dass man die Kirche als wertvolle soziale Institution anerkennt und wertschätzt. Allerdings macht die Generalsekretärin keinen Hehl daraus, dass sich dies in Zukunft ändern könnte. Darauf deuten die kürzlich vom Bundesamt für Statistik BFS veröffentlichten Zahlen hin, nach denen in der Schweiz erstmals mehr Menschen ohne Religionszugehörigkeit leben als Katholikinnen und Katholiken.

«Wenn man gar keinen Bezug mehr zur Kirche hat und dies an die nächsten Generationen weitergibt, geht dieses Verständnis von Kirche mit der Zeit verloren», sagt Furrer.

Unliebsame Vorstösse

Fehlt dieses Publikum, nützt es auch wenig, wenn Politiker:innen aller Parteien von den Kirchen erwarten, bei ihren Kernaufgaben zu bleiben: dem Vermitteln von christlichen und ethischen Werten. Immerhin anerkennt die Politik jedoch den gesellschaftlichen Wert der kirchlichen Arbeit. «Es wird mir immer wieder von Politikerinnen und Politikern aller Lager gesagt: ‹Ihr seid wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft; konzentriert euch auf diese Aufgabe›», erzählt Regula Furrer.

Dass es in verschiedenen Kantonen immer wieder Vorstösse gab und gibt, welche die Kirchensteuern für juristische Personen infrage stellen – im Kanton Bern ist es aktuell die Motion Reinhard –, sei wohl immer noch eine Art Denkzettel dafür, dass sich die Kirchen im Rahmen der Konzernverantwortungsinitiative 2020 für einmal recht weit aus dem politischen Fenster gelehnt hatten, statt sich eben auf ihre gesellschaftlichen Kernaufgaben zu konzentrieren.

Solche Forderungen übersehen jedoch, dass die Steuern juristischer Personen im Kanton Bern von der katholischen Kirche genau für die gesamtgesellschaftlichen Leistungen eingesetzt werden, nicht für den Kultus.

Konfliktpotenzial

Ein Leistungsnachweis, wie ihn der Bericht «Kirche in der Gesellschaft» erbringt, ist also auf mehreren Ebenen sinnvoll. Er birgt aber auch einen gewissen Zündstoff. Das zeigte sich bereits während der Erstellung, bei der sich die Berner Reformierten partout nicht in die Karten sehen lassen wollten. Dies zeigte sich aber auch innerhalb der katholischen Landeskirche, wo vor allem der qualitative Teil, der viele Angebote exemplarisch darstellt, zu einem gewissen Konkurrenzdenken unter den Kirchgemeinden geführt habe. «Einigen war es extrem wichtig, in einem guten Licht dargestellt zu werden», erinnert sich Regula Furrer. «Sie sahen den Bericht sozusagen als eine Chance zur Eigenwerbung.»

Mittelfristig könnten die künftigen Berichte auch zu Spannungen unter den Berner Landeskirchen führen. Denn der Grosse Rat spricht alle sechs Jahre, das nächste Mal 2025, im Rahmen der variablen zweiten Finanzierungssäule einen Gesamtbetrag für alle drei Landeskirchen; dieser Betrag wird anschliessend vom Regierungsrat auf die Landeskirchen verteilt. Grundlage für den Verteilschlüssel werden die jeweiligen Berichte sein.


Eine Frage der Reputation?

Der Bericht liegt nun bei den Politikerinnen und Politikern. Wird er sie beeindrucken? «Ich hoffe es!», sagt Regula Furrer. Dennoch ist ihr bewusst, dass das 100-Seiten-Werk nur eines von unzähligen Dokumenten ist, die bearbeitet werden wollen. Ein Hinweis darauf ist nur schon, dass verschiedene Grossräte der Generalsekretärin davon abgeraten haben, den Bericht in gedruckter Form zu verteilen. «So würde er in der politischen Papierflut einfach untergehen, hiess es», so Regula Furrer.

Ob ein so umfangreicher Bericht in elektronischer Form besser zu bearbeiten ist, sei dahingestellt. Und welchen Einfluss wird der derzeit angekratzte Ruf der katholischen Kirche – unter dem wohl auch die anderen Landeskirchen zu leiden haben – auf die Wahrnehmung des Berichts haben? «Bisher wurde mir in Gesprächen signalisiert, dass dies kein Faktor sei», sagt Regula Furrer. «Ob das in der Diskussion so bleibt, ist schwierig vorauszusagen.»

David Leutwyler, der Beauftragte für kirchliche und religiöse Angelegenheiten des Kantons Bern, zeigte sich nach Prüfung des Berichts jedenfalls positiv überrascht ob der Resultate, die das Dokument ausweist. «Und das ist, denke ich, eine Aussage, die positiv stimmt.»

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