Uniform, die der Zürcher Albert Mülli als KZ-Häftling tragen musste; Buchcover. Foto: NZZ Libro Verlag

Schweizer KZ-Häftlinge erhalten wieder einen Namen

08.05.2020

Ein neues Buch zeichnet die Geschichte Schweizer KZ-Häftlinge nach

In den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus arbeiteten und starben fast 400 Menschen mit Schweizer Pass. Das neue Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» zeichnet ihre Geschichte nach und schildert zehn Schicksale.

Hannah Einhaus

«Die Schweiz hätte Dutzende Leben retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck eingesetzt hätte.» Zu diesem Schluss kommen die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid in ihrem Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs». Nach vierjähriger Recherche haben sie eine Liste von 391 Namen hervorgebracht, Namen von Schweizerinnen und Schweizern, nachdem sie in Konzentrationslagern des Dritten Reichs und später in den schweizerischen Bundesakten zu Nummern geworden waren. Der Fokus auf KZ-Häftlinge mit Schweizer Pass deutet an, dass es ein Mehrfaches von Opfern aus der Schweiz gegeben haben muss, die von der Naziverfolgung betroffen waren. So galten beispielsweise Frauen, die einen Ausländer geheiratet hatten, nicht mehr als Schweizerinnen und wurden entsprechend nicht mehr durch die Konsulate geschützt. Historikerkreise gehen von mindestens tausend weiteren Betroffenen aus.

Schweizer Bürger zweiter Klasse

Neben einer aufschlussreichen Analyse der historischen Umstände sind in diesem Werk zehn Schicksale ausführlicher beschrieben. Dazu zählen etwa der politisch Verfolgte Albert Mülli aus Zürich, die Zeugin Jehovas Emma Kübler aus Basel oder die jüdische Auslandschweizerin Marcelle Giudici, die wegen einer bevorstehenden Geburt die Frist für eine mögliche Rückkehr aus Frankreich in die Schweiz verpasste. Zahlreiche verfolgte Schweizer*innen gehörten in Frankreich der Résistance an, die Rolle der Kirchen in Bezug auf die Schweizer KZ-Häftlinge geht aus der Untersuchung jedoch nicht hervor. Im Allgemeinen war die katholische Kirche dem mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regime wohlgesinnt. Dies hielt jedoch zahlreiche Priester und Klöster nicht davon ab, Résistancekämpfern und Juden zu helfen. Die Studie zeigt auf, dass die Schweizer Behörden oft bewusst wegschauten und unter dem Vorwand der Neutralität gegenüber dem Hitler-Regime still blieb. Dies ging in einem Fall so weit, dass die Schweiz einen von Nazi-Deutschland angebotenen Gefangenen-Austausch ablehnte. Hilfreich zeigten sich die Schweizer Beamten primär gegenüber ihren wohl Gesinnten.

Dass die Schweiz diesen Mord an den eigenen Bürgerinnen und Bürgern bis heute nahezu ignorierte, führt Autor Spörri in einem Interview mit der «Schweizer Familie» darauf zurück, dass es sich bei den Opfern meist um Auslandschweizer handelte und der Holocaust ohnehin als etwas betrachtet wurde, das sich weit entfernt im Ausland abspielte. Weder Juden, Sinti und Roma noch Kommunisten und Kämpfer der französischen Résistance galten als schützenswert, sondern als Schweizer Bürger zweiter Klasse. Wenn sie von Nazis misshandelt wurden, schwiegen die eidgenössischen Behörden im vollen Bewusstsein um das Leid, das sie auf diese Weise mitverschuldeten. Die guten Beziehungen zum Unrechtsstaat sollten unter keinen Umständen auf dem Spiel stehen. 201 Personen mit Schweizer Pass überlebten die Torturen nicht. Den Rückkehrern wiederum wehte grosses Misstrauen entgegen: Dass sie ins KZ kamen, sei wohl ihrem eigenem Verhalten anzulasten. Sie hätten gegen die Neutralitätsmaxime verstossen, daher müsse man sie auch nicht entschädigen.

Forderung nach einem offiziellen Gedenkort

Mit ihrer Recherche haben die Autoren Spörri, Staubli und Tuchschmid ein wichtiges neues Kapitel der Geschichtsschreibung über die Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus aufgeschlagen. Der Bergier-Bericht, der 2002 primär die nachrichtenlosen Vermögen und die Rückweisungspolitik gegenüber jüdischen Flüchtlingen unter die Lupe nahm, erhält eine wichtige Erweiterung. Die Autoren hoffen, dass der Bundesrat und die Behörden diese damalige Politik heute, 75 Jahre nach Kriegsende, als Fehlverhalten klar anerkennen würden. Zeitzeugen sterben allmählich aus, neue Formen des Erinnerns drängen sich auf. Die Forderung nach einem offiziellen Ort des Gedenkens steht im Raum. Damit würde die Eidgenossenschaft nicht mehr im Abseits stehen bei der weltweit umspannten Erinnerungskultur an dieses wohl grösste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Menschen einst zu Nummern machte.

Mehr zum Thema: Carl Lutz – eine offizielle Ikone?



Buchtipp
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reiches. Verlag NZZ Libro, Basel 2019. 320 S.,
Fr. 48.–