Die Seele sichtbar gemacht. Jaume Plensa, ­Together, Kunstbinennale Venedig 2015, Basiclica di San Giorgio Maggiore.

Seelsorge und Selbstsorge

30.10.2021

Wenn die Seele hinter dem Selbstverständnis zurückbleibt.

Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung sollen verhindern, dass unser Selbst in eine Krise gerät. Die Seele komme dabei kaum noch vor. Diese aber macht den Menschen aus.

Von Daniel Hell*

Wenn in den nächsten Tagen Allerseelen bevorsteht, so ist weniger Selbstsorge als Seelsorge gefragt. Wie sich Seelsorge und Selbstsorge unterscheiden, zeigt sich bereits an der Begriffsbildung. Seelsorge hat den Begriff der Seele zur Grundlage. Selbstsorge setzt hingegen ein Verhältnis zu sich selbst, ein «Selbst» voraus. An diesen verschiedenen Grundworten kann man auch ableiten, worin sich beide unterscheiden. Dabei ist die Seele das viel ältere und reichere Wort.

Die Seele

Kaum ein Begriff hat das abendländische Menschenbild so geprägt wie die Seele. Die Gedanken und Überlegungen, die sich philosophische Denker und religiöse Sucher zu verschiedenen Zeiten über die Seele gemacht haben, sind äusserst vielschichtig. Eines haben sie aber gemeinsam. Die Seele ist dem Menschen gegeben. Sie macht ihn aus. Der Mensch kann über sie nicht verfügen. Wer von seiner Seele spricht, geht in der Regel davon aus, dass sie unveränderlich ist. Man kann für sie Sorge tragen, sie aber nicht selbst verändern.

Das Selbst

Im Gegensatz dazu wird das Selbst gemeinhin als ein Verhältnis zu sich selbst verstanden, mithin die Vorstellungen und Einstellungen, die man von sich selber hat. Das Selbst entwickelt sich im Leben in Abhängigkeit von Erfahrungen und eigenen Entscheidungen. Der Mensch ist dafür mitverantwortlich. Er kann, wenn nötig, dazu beitragen, dass sich sein Selbst verändert.

Unterschiedliche Symbole

Wenn wir auf das Sprachspiel von Seele und Selbst achten, wird deutlich, dass das Selbst tendenziell mentale oder geistige Wortassoziationen weckt, wie denkbar, kühl, bewusst, reflektiert, während die Seele tendenziell emotionale und leibliche Wortassoziationen hervorruft, wie lebendig, warm, herzlich, resonant, innig. Auch die Assoziationen und Bilder, die die beiden Begriffe bei den meisten Menschen hervorrufen, sind verschieden:  zum Selbst wird Kopf, Hirn, auch Cortex assoziiert, zur Seele Atem, Herz, Blut, auch Musik. Während also die Seele eher ein Symbol für das (Er-)Leben ist, so stellt das Selbst eher eine sachliche oder funktionelle Beschreibung dar.

Seelenverlust

Der Begriff des Selbst ist weitgehend ein wissenschaftlicher Begriff geblieben. Er hat jedoch den Seelenbegriff in der Neuzeit zum Beispiel in Psychologie und Psychotherapie weitgehend abgelöst. Dieser Seelenverlust - der Zürcher Philosoph Helmut Holzhey spricht von «Seelenexorzismus» – hat viele geschichtliche Ursachen. Besonders bedeutsam ist der Übergang von einer hierarchisch bestimmten Wir-Kultur zu einer demokratisch organisierten Ich-Kultur. Je mehr sich die Gesellschaft individualisiert, desto mehr wird für den modernen Menschen auch wichtig, wie er mit sich selbst zurechtkommt. Neue Wörter wie Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung machen deutlich, wie stark wir uns von uns selbst abhängig erfahren. Wir vertragen es sehr schlecht, wenn unser Selbstverständnis in eine Krise gerät. Gerade das ist aber immer häufiger der Fall. Die Coronakrise ist dafür in psychischer Hinsicht nur ein viel zitiertes Beispiel.

Angesichts zunehmender Selbstkrisen ist es vielleicht angebracht, einen Befund der Entwicklungspsychologie in Erinnerung zu rufen.Unser mentales oder reflexives Selbstbewusstsein setzt ein basaleres leib-seelisches Erleben von Empfindungen und Gefühlen voraus. Wir sollten deshalb das uns seelisch Gegebene, das im Begriff der Seele enthalten ist, nicht auf die Seite schieben. Die Selbstsorge kann die Seelsorge nicht einfach ersetzen.
 


* Daniel Hell, Psychiater, Psychotherapeut, emeritierter Professor für Klinische Psychiatrie und Buchautor vertritt bei seinen Behandlungen einen ganzheitlichen Ansatz. Sein neustes Buch trägt den Titel «Lob der Scham». Weitere Infos: www.daniel-hell.com

 

Was für die Seele gut ist

An Allerseelen gedenken wir der Verstorbenen. Ihre Seelen sind uns vorausgegangen, heisst es. Wir, die wir leben, können bloss der Seele Sorge tragen. Die Kirchen ihrerseits haben dazu die Seelsorge im Angebot. Was ist die Seele überhaupt, was ist gute Seelsorge und wäre es nicht auch mit ein bisschen Selbstoptimierung getan?

Die reformierte Pfarrerin Claudia Kohli Reichenbach und der Psychiater Daniel Hell (siehe Text oben) werden im Rahmen der Vortragsreihe «Was für die Seele gut ist» in der Berner Petruskirche (Brunnadernstrasse 40, Bern) am Montag, 1. und 8. November, jeweils von 19.30 bis 21.00, zum Thema sprechen. Veranstaltung mit Zertifikatspflicht. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.