Sehnsucht nach Leere
Editorial der aktuellen Ausgabe von Sylvia Stam
Kürzlich wollte ich an einer Schweigewoche teilnehmen. Ich sehnte mich nach Abstand vom Alltag, aber auch nach spiritueller Tiefe und Konzentration auf das Wesentliche. Ich fand eine ganze Reihe von Angeboten, doch leider waren die zwei, die mich inhaltlich ansprachen, bereits ausgebucht. Erst im Juni sei wieder ein Platz frei, wurde ich vertröstet.
Schweigen ist eine Form des Verzichts, etwa auf die sprachliche Kommunikation. Das impliziert auch die Benutzung des Handys. Verzicht, so berichtete SRF kürzlich, ist allerdings inzwischen zu einem Geschäftsmodell geworden. Viele Menschen sehnten sich nach Leere. Diese Sehnsucht nach Leere dürfte die Kehrseite unserer Reizüberflutung sein. Täglich konsumieren wir via E-Mail, Whatsapp oder Instagram, aber auch über Telefon, Radio und Fernsehen Hunderte Informationen. Sie alle wollen verarbeitet sein.
Wir leben in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten und ungezählter Angebote, die online jederzeit verfügbar sind. Kein Wunder, dass Menschen sich nach Leere sehnen. Sie suchen sie in Schweige- oder Fastenwochen.
Einen anderen Weg schlägt der Berner Künstler Michael Schoch alias Dr. Chopf vor: «Wie wenig ist genug?», fragte er auf einer Tour durch die Schweiz verschiedene Menschen. Seine Frage bezieht sich nicht nur auf materielle Güter, sondern auch auf Projekte, auf Bücher, die man noch lesen möchte, oder auf die Arbeit. Vielleicht entnehmen auch Sie seinen Gedanken einige Inspirationen, wie Sie Ihren Alltag entschlacken können. Ich jedenfalls übe mich gerade darin. Mal sehen, ob mein Bedürfnis nach Stille und Leere im Juni immer noch so gross ist, dass ich in eine Schweigewoche gehen möchte.