«Es ist nicht zielführend, wenn ein Bischof einfach etwas bestimmt.» Bischof Felix Gmür. Foto: Detlef Kissner
Sexualmoral ist keine Kernkompetenz der Kirche
Ein Interview mit Bischof Felix Gmür zum Skandal um sexuelle Gewalt in der Kirche
Als Präsident der Schweizer Bischofskonferenz nahm Bischof Felix Gmür am sogenannten «Anti-Missbrauchsgipfel» in Rom teil. Im Gespräch äussert er sich über die Ergebnisse des Gipfels, wie man Klerikalismus begegnen kann und warum sich die Kirche beim Thema Sexualität eher zurückhalten sollte.
Interview: Anne Burgmer und Detlef Kissner
Für die Arbeitsgemeinschaft der Pfarrblattredaktionen
«pfarrblatt»: Auf die katholische Kirche prasselt eine Lawine von Berichten über schwerwiegende Missbrauchsfälle weltweit herein. Wie geht es den kirchlichen Mitarbeitenden im Bistum Basel damit?
Bischof Felix Gmür: Es ist für sie eine grosse Belastungsprobe, vor allem weil man nicht vergessen darf, dass die allermeisten Seelsorgerinnen und Seelsorger wirklich eine sehr gute Arbeit machen und dass es um ein paar wenige Ausreisser geht, vor allem aus früheren Zeiten. Sie sehen sich diesem Thema ausgesetzt, wo sie doch alle – nach meinem Wissensstand – korrekt handeln.
Vor kurzem wurde der Dokumentarfilm «Gottes missbrauchte Dienerinnen» gezeigt. Er hat viele schockiert. Welche Gedanken kamen Ihnen, als sie von diesen neuen Enthüllungen hörten?
Natürlich ist das ein Schock. Es ging in diesem Film ja vor allem um Frankreich. Hier sieht man, dass es bei Missbrauch nicht nur um minderjährige Personen geht, sondern um jede abhängige Person. Das ist sehr wichtig. Das habe ich auch in Rom bei dem «Missbrauchsgipfel» gesagt. Und zum zweiten sieht man hier, dass der Kern des Missbrauchs ein Missbrauch von Macht ist, von geistlicher Macht.
Sie haben sich während des Missbrauchsgipfels in Rom mit Missbrauchsopfern getroffen. Was haben Sie im Austausch mit ihnen lernen können?
Ich habe mich, seit ich Bischof bin, immer wieder mit Missbrauchsopfern getroffen. Es ist also nichts Neues für mich. In Rom habe ich mich dann mit drei Schweizer Opfern getroffen, die ich teilweise schon kannte. Diese Opfer hatten eine Stimme an diesem Zusammentreffen in Rom. Das erste, was es auslöst, ist immer wieder eine grosse Betroffenheit, ein Schock. Aber man sieht, dass dies ein weltweites Phänomen ist. Und man hat gemerkt, dass es das Wichtigste ist, den Opfern zuzuhören und ihnen Glauben zu schenken. Es war eine Bestätigung meiner Erfahrungen, die ich bereits gemacht habe. Es war den Organisatoren wichtig, dass man diese Erfahrung gemeinsam machen kann, dass alle Teilnehmenden auf dem gleichen Erfahrungsstand sind.
Welche Ergebnisse hat das Treffen aus Ihrer Sicht gebracht?
Das Wichtigste ist, dass ein gemeinsames, weltweites Bewusstsein dafür geschaffen wurde, dass es sich hier um ein Verbrechen handelt. Es gibt eben einige Kulturen, in denen es kein Verbrechen und auch nicht justiziabel ist. Ich sage das wieder, obwohl man es mir vorgeworfen hat, dass ich dies gesagt habe. Für die Kirche ist es eben in jedem Fall ein Verbrechen. Es ist also noch etwas anderes als eine Sünde. Ein Verbrechen wird angezeigt, untersucht, verfolgt und geahndet mit einer Strafe.
Im kirchlichen Gesetzbuch CIC ist das Alter der Ehemündigkeit für Mädchen auf 14 Jahre und bei Jungen auf 16 Jahre festgelegt. Manche Täter reden sich aufgrund dieser Regelung ein, dass sexueller Missbrauch an Jugendlichen nicht so schlimm ist.
Dies war auf dem Gipfel kein Thema. Es wurde lediglich darüber informiert, dass es Kulturen gibt, die es erlauben, mit 12 Jahren zu heiraten. Der Vatikan hat aber im Jahr 2001 das Schutzalter bezüglich sexuellem Missbrauch von 16 auf 18 Jahre erhöht. Beim Treffen wurde klargestellt, dass der Missbrauch von Minderjährigen («minori») in jedem Fall ein Verbrechen ist, unabhängig von ihrem Alter.
Welche weiteren Ergebnisse brachte der Missbrauchsgipfel?
Ein weiteres ist das Hilfsangebot des Vatikans: Wenn es einen Vorfall gibt und eine Diözese damit Mühe hat, gibt es eine Task Force, die dann behilflich ist. Schliesslich hat die Einsicht in die Notwendigkeit, Übergriffe zu verfolgen und zu untersuchen, weltweit Fuss gefasst. Ich für mich habe gelernt, dass es einige Kulturen gibt, in denen dieses Thema in der Öffentlichkeit – nicht nur in der Kirche – tabuisiert ist.
Welche Massnahmen müssen nun in der überschaubaren Zeit von einem Jahr aus Rom bzw. in den Bistümern folgen?
Aus meiner Sicht schaue ich jetzt zuerst auf die Schweiz, weil wir für uns selber verantwortlich sind und dies nicht einfach delegieren können. Jetzt müssen die Präventionsmassnahmen, die wir bei der letzten Bischofskonferenz beschlossen haben, wirklich greifen: Die Auszüge aus dem Strafregister und die Sonderprivatauszüge müssen eingefordert und eingereicht werden, die Zusammenarbeit des Bistums mit den staatsrechtlichen Anstellungsbehörden muss richtig geregelt werden. Die Präventionsmassnahmen müssen umgesetzt und kontrolliert werden. Das ist unsere Aufgabe.
In den deutschen Bistümern soll im Zusammenhang mit der Missbrauchsaufarbeitung ein synodaler Prozess angestossen werden. Ist in der Schweiz ein ähnlicher Prozess geplant?
Nein, es sind keine synodalen Prozesse zu diesem Thema geplant. Das ist auch schwierig, weil wir sprachlich und damit einhergehend kulturell grosse Hürden haben. Wir sind schon weiter mit unseren Massnahmen. Wir müssen nicht nochmals reden, sondern umsetzen. Wir haben jetzt die vierte Auflage unserer schweizweit geltenden Richtlinien und da steht alles Wesentliche drin. Während der Umsetzung sieht man dann, wo vielleicht etwas fehlt oder etwas präzisiert werden muss.
Als eine systemische Ursache von Missbrauch machte Papst Franziskus den Klerikalismus aus. Ist das für Sie nachvollziehbar? Wo fängt Klerikalismus für Sie an und was muss man dagegen machen?
Es ist ein Wort des Papstes und verschiedene Leute stellen sich unterschiedliche Dinge darunter vor. Ich finde es zielführender, wenn wir von Machtmissbrauch in verschiedenen Ausprägungen sprechen. Das ist klarer und direkter und man kann direktere Massnahmen dagegen ergreifen: beispielsweise Machtausübung transparent und nachvollziehbar zu machen. Damit man weiss, wer wann warum etwas gesagt oder gemacht hat und wer in Prozesse miteinbezogen wird oder nicht. Man kann schauen, wo die Gefahr liegt, dass Macht nicht kontrolliert wird. Das finde ich zielführender. Der Begriff Klerikalismus meint aus meiner Wahrnehmung, dass die Macht in der Kirche an den Klerikerstand gebunden ist.
Doch es ist so, dass es Klerikalismus auch bei nicht-ordinierten Menschen gibt, bei Kirchenmitgliedern beispielsweise, die ein bestimmtes Kirchensystem bevorzugen.
Das kann man so sehen. Der Papst hat das so gesehen und wurde dafür kritisiert. Er sagte deshalb aber auch, dass der Kampf gegen Missbrauch und Klerikalismus das ganze Volk Gottes betrifft.
Wir haben irgendwo eine Ausdeutung von Klerikalismus gelesen, die sagt, dass Klerikalismus auch die Haltung ist, zu erwarten, dass Rom, beziehungsweise die nächsthöhere Instanz, jetzt alles regeln soll.
Deshalb setzte ich genau bei uns an. Wir sind für die Schweiz zuständig und für die konkrete Lage hier. Ich kann und will das nicht nach Rom geben. Weil es unsere Sache ist.
Diese Haltung muss in die andere Richtung aber auch bis an die Basis gehen, oder?
Ja, streng nach dem Subsidiaritätsprinzip: Dort, wo sich Probleme stellen, müssen sie gelöst werden. Man soll ein Problem nur dann weitergeben, wenn man selber an eine Grenze stösst. In diesem Sinne hat der Vatikan eine Task Force eingerichtet. Wenn ein Bischof in seinem Land bezüglich Missbrauch an seine Grenze stösst, kann diese Task Force gerufen werden.
Ist die Task Force für die Basis der Ansprechpartner auf Bistumsebene, wenn es zum Beispiel um Probleme mit intransparenten Strukturen geht?
Es kommt natürlich immer auf das konkrete Beispiel an und oft sind beide Seiten – staatskirchenrechtliche und pastorale – beteiligt. Aber je nach Problem in einer Pfarrei ist der Pastoralraum oder auch die Bistumsregion Ansprechpartner.
Eine andere These ist, dass ein neuer Umgang und ein neues Nachdenken über die Sexualmoral helfen könnte, die Missbrauchskrise oder auch den Klerikalismus in den Griff zu bekommen. Die kirchliche Lehre ist sehr strikt beim Thema Sexualmoral. Wäre es sinnvoll, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und die veränderte Lebensrealität der Menschen kirchlicherseits mehr rezipiert würden?
Das stimmt, da besteht Handlungsbedarf. Wenn man sagt, Erkenntnisse finden nicht Eingang in die Kirche, dann stimmt das auf der Ebene des Katechismus. Da findet es kaum Eingang. Doch Erkenntnisse finden Eingang im Modus des Nachdenkens und Hinterfragens bei vielen Verantwortungsträgern. Und hier wäre ein – ich nenne es mal «entspannterer Umgang» mit dem Thema – wirklich allen dienlich.
Ist in der Ausbildung denn ein solch «entspannterer Umgang» mit dem Thema möglich?
Zur aktuellen Ausbildung habe ich keine Rückmeldungen, aber ich erinnere mich, dass das in meiner eigenen Ausbildung möglich war.
Auch da müssen wir also in die Diözesen schauen?
Und an die Universitäten.
Ist die Theologie zu eingetrocknet für diese Themen?
Nach meiner Wahrnehmung – die Sexualmoral ist nicht mein Spezialgebiet – hat die Theologie Vorschläge für einen «entspannteren Umgang» damit. Vor allem humanwissenschaftliche Erkenntnisse werden da aufgenommen. Man muss aber auch wahrnehmen, dass vielen Menschen die offizielle Sexualmoral gar nicht bekannt ist oder sich nach meiner Wahrnehmung viele nicht daran halten; das ist ein Zeichen der Zeit, das es zu erkennen gilt.
Auf das man nicht mit Abwehr reagiert, sondern fragt: Warum ist das so?
Genau. Es ist ein Zeichen der Zeit und dann kommt es darauf an, wie man dieses Zeichen der Zeit deutet.
Welche Haltung sollte die Kirche in Bezug auf die Sexualmoral einnehmen? Sollte sie nicht eher ins Wohnzimmer als ins Schlafzimmer der Leute schauen?
Sie sollte ins Wohnzimmer und auf den Arbeitsplatz schauen. Sexualmoral ist nicht die Kernkompetenz der Kirche und sie sollte sich weniger dazu äussern. Sie sollte weniger darüber reden und auch nicht moralisieren, sondern dem Gewissensentscheid der Menschen den Vorrang geben und darüber nicht urteilen.
Sie sollte also eine begleitende Rolle einnehmen?
Ja, das ist überhaupt die Rolle der Kirche, zu begleiten. Es geht meiner Ansicht nach in erster Linie darum, dass ich die Menschen, wenn sie Fragen haben oder begleitet werden wollen, dazu ermutige, sich mit ihrer Art von Beziehung auseinanderzusetzen. Mit deren Verbindlichkeit oder Schwierigkeiten. In dieser Auseinandersetzung ist die Sexualität ein Aspekt, aber nicht mehr. Wenn man einerseits alles auf das sechste Gebot (du sollst nicht ehebrechen) einschränkt und andererseits die kirchlichen Aussagen noch ausweitet auf andere Formen von Sexualität, dann ist das schwierig.
Was sind – mit Blick auf die Diözese Basel – sinnvolle nächste Schritte für eine Kirche, die so erschüttert ist, dass sogar treue, kirchenpolitisch gemässigte Basiskatholiken keine Lust mehr haben?
Die Kirche muss die Strukturen, die Fehlverhalten begünstigen, überdenken. Das zweite: Die Kirche muss sich mit ihrem Kern beschäftigen, das heisst mit ihrem Blick auf Jesus Christus. Und mit Blick auf diesen Jesus soll sie die Menschen begleiten in ihrem Glaubensleben, in ihren Zweifeln. Wieso ist das Leben sinnvoll? Was mache ich daraus? Wie hilft mir Gott dabei? Woher schöpfe ich Kraft und Hoffnung? – Das alles ist die Aufgabe der Kirche und darauf sollte sie sich wieder vermehrt konzentrieren. Doch ihre Hausaufgaben muss sie machen: Die Entscheidungsprozesse müssen transparent gemacht, angeschaut und geändert werden, wo notwendig.
Papst Franziskus hat von Dezentralisierung gesprochen und empfiehlt eine stärkere Länderzuständigkeit beim Thema Missbrauchsprävention. Wenn man das auf die Frage nach Strukturveränderungen überträgt: Was bedeutet das für das Ineinander von Ortskirche und Weltkirche? Wo kollidieren diese Grössen?
Das eine sind die Herausforderungen, die wir hier lösen müssen. Zum Beispiel einerseits die Zusammenarbeit innerhalb der pastoralen Seite, also zwischen den verschiedenen Diensten – das heisst den ordinierten wie nicht-ordinierten Seelsorgenden, dem katechetischen Personal, den ehrenamtlich Tätigen. Andererseits die Zusammenarbeit von pastoraler Seite und staatskirchenrechtlicher Struktur. Das betrifft nicht mal die ganze Schweiz, sondern meine Diözese und das kann ich nicht delegieren. Das andere ist, es gibt Fragen, die werden nicht von einem Bischof alleine entschieden, sondern im Kollegium aller. Entweder auf Schweizer Ebene oder im Kollegium der Bischöfe aus Mitteleuropa oder Osteuropa und so weiter. Das sind heterogene Gruppen, die ganz verschiedene Länderwirklichkeiten widerspiegeln. Es ist nicht zielführend, wenn ein Bischof einfach etwas bestimmt. Sondern es ist zielführend, dass alle gemeinsam eine Fragestellung identifizieren und dann eine Antwort suchen.
Wäre es denn denkbar, dass die Bischöfe des deutschsprachigen Raumes sagen: wir stellen fest, dass die Abschaffung des Pflichtzölibats oder die Weihe von Frauen zu Diakoninnen sinnvoll ist und dann eine entsprechende Lösung anstreben? Denn ein System, an dem nicht wirklich geschraubt wird, verändert sich ja nicht.
Es geht also um die Frage nach regionalen Lösungen? Ich muss nochmal auf das Thema Prävention zurückkommen. Beim Thema Prävention streben wir eine Lösung aller deutschsprachigen Länder an, weil das eben auch eine Kulturfrage ist. Für die Frage des Zölibats wird an der Amazonassynode im Oktober 2019 diskutiert werden. Ich weiss aber nicht, ob das dann regional bleibt. Ich finde das könnte man in den europäischen Ländern auch besprechen. Wir waren in der Kirche immer schon global und sind es heute noch mehr und gerade der deutschsprachige Raum ist grösser als man gemeinhin annimmt. Man könnte eine solche Diskussion sicher anstossen, das wäre gut.