Felix Gmür, Charles Morerod und Jean-Marie Lovey betend.
Sexuelle Übergriffe
Schweizer Bischöfe wollen «Nulltoleranz« und «Totaltransparenz»
In einer ergreifenden Feier gedachten die Schweizer Bischöfe und Ordensobern der Opfer sexueller Übergriffe im kirchlichen Umfeld. Im Beisein von Opfervertretern bekannten sie in der Basilika von Valeria in Sitten die Schuld der Kirche. Im Anschluss an die Feier präsentierten sie der Öffentlichkeit die bisherigen Aktivitäten in der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels.
«Um nie mehr die im kirchlichen Umfeld stattgefundenen sexuellen Übergriffe unter den Teppich zu kehren, zu verharmlosen oder zu relativieren» lautet die Fürbitte einer Frau mittleren Alters, die als Vertreterin der Opfer sexueller Übergriffe mit brüchiger Stimme spricht. Sie ist das Kind eines Priesters, wird sie später gegenüber kath.ch sagen. Und sie weiss inzwischen, dass sie noch vier Halbgeschwister mit anderen Müttern hat. Es ist ein ergreifender Moment, als sie zusammen mit Bischöfen und Ordenvertreterinnen und -Vertretern ihre Fürbitte vorträgt.
Nach jeder Bitte entzündet ein anderer Bischof oder Ordensvertreter eine Kerze auf dem Altar. «Hilf uns, an einer wirksamen Prävention der sexuellen Übergriffe zu arbeiten», sagt Markus Büchel, Bischof von St. Gallen. Gebetet wird auch für diejenigen Opfer, «die nichts mehr von der Kirche wissen wollen», sagt Marian Eleganti, Weihbischof im Bistum Chur. «Zeig uns Wege, wie wir uns ihnen in demütigem Schuldbewusstsein nähern können.»
Schuldbekenntnis Seinen Höhepunkt erreicht die feierliche Liturgie, als die Bischöfe allesamt niederknien und im Wechselgesang mit einem kleinen, nicht sichtbaren Chor den Psalm 130 singen, in dem es heisst: «Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.»
«Wir bekennen dir unsere Schuld, an der wir miteinander tragen», so Charles Morerod, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, im anschliessenden Gebet. «Wir sind bereit, unsere Verantwortung anzunehmen für Vergangenheit und Gegenwart und an der Heilung der Wunden mitzuwirken». Rund 70 Personen haben sich in der Basilika von Valeria in Sitten eingefunden, haben den steilen, schmalen Weg zur Kirche erklommen und harren in der ungeheizten Kirche aus. Ordensleute, darunter einige Obere, die Mitglieder der Bischofskonferenz, zu der auch die Äbte von Einsiedeln und St.-Maurice gehören, Vertreter der staatskirchenrechtlichen Körperschaften und der kirchlichen Gremien für sexuelle Übergriffe in kirchlichem Umfeld. Nebst den Ordensoberen sind erstmals auch Vertreter der Opfer anwesend, von denen die meisten jedoch anonym im Hintergrund bleiben.
Dank dem Druck der Öffentlichkeit Papst Franziskus selber hatte dazu aufgerufen, für die Opfer sexueller Übergriffe zu beten. Die Bischöfe sind diesem Wunsch nachgekommen, nachdem sie bereits 2010 in einem liturgischen Akt die «grosse Schuld» der Kirche bekannt hatten.
Von einer «Nulltoleranz» und «Totaltransparenz» bei diesem Thema sprach Charles Morerod an der anschliessenden Medienkonferenz. Er bedankte sich bei der Öffentlichkeit, dass sie den Druck aufrechterhalten habe und bat um weitere Aufmerksamkeit für dieses Thema.
Giorgio Prestele, Präsident des Fachgremiums sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld der SBK, präsentierte die bisherige Tätigkeit der römisch-katholischen Kirche in dieser Thematik: Im Jahr 2002 wurden erstmals Richtlinien im Umgang mit dieser Thematik erstellt, diese wurden seither zweimal überarbeitet. Wesentliche Neuerungen sind die Anerkennung der Richtlinien auch durch die Ordensgemeinschaften sowie die Ausweitung auf alle im kirchlichen Bereich tätigen Personen, beispielsweise auch Katechetinnen, Sakristane, Jugendarbeiter und Kirchenmusikerinnen.
Wieder mehr Vertrauen in kirchliche Strukturen Prestele präsentierte ausserdem eine statistische Übersicht der Jahre 2010 bis 2015 (siehe Kasten) und resümierte, dass die meisten Fälle in die Jahre 1950 bis 1980 fielen. In jüngerer Zeit seien die Übergriffe weniger massiv und würden ausserdem rascher gemeldet. Er konstatierte gar wieder «spürbar mehr Vertrauen in kirchliche Strukturen und Personen». Dies habe wohl auch damit zu tun, dass inzwischen in allen Bistümern Fachgremien und Ansprechpersonen für diese Thematik eingerichtet worden seien.
In diesen Gremien lege man Wert auf eine ausgewogene Balance zwischen der Neutralität, der Professionalität und dem kirchlichen Bezug der Personen. Letzteres sei wichtig, weil viele Opfer das Vertrauen in die Kirche verloren hätten. «Sie warten darauf, dass die Kirche sich ihnen zuwendet und ihnen zuhört», so Prestele. Hierfür böten sich Personen mit einem kirchlichen Bezug besonders an. Prestele zeigte die komplexen Wege der Melde- und Vorgehensmöglichkeiten für die Opfer jener Fälle auf, die noch nicht verjährt sind. «Opfer werden ermutigt, immer Anzeige zu erstatten», so Prestele. Es gebe auch Fälle, wo gegen den Willen eines Opfers Anzeige erstattet werde, etwa dann, wenn im Falle eines pädophilen Täters die Gefahr einer Wiederholung bestehe.
Fonds für verjährte Fälle Schwerpunkt des Fachgremiums sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld sei heute vor allem die Präventionsarbeit. Das Gremium will weiterhin aktiv bleiben, «bis die Thematik in Fleisch und Blut sitzt», endete der Präsident des Gremiums seine Ausführungen.
Besonders hervorgehoben wurde an der Pressekonferenz das Leiden derjenigen Opfer, deren Fälle verjährt sind. Diese seien für die Bischöfe «besonders erdrückend», sagte Felix Gmür, Bischof von Basel, weil diese Menschen nirgends Gehör oder Genugtuung erhalten hätten. Als Zeichen der Solidarität sei daher ein Fonds geschaffen worden, der diesen meist bereits betagten Menschen eine Entschädigung bezahle.
Je nach Schwere handle es sich um einen Betrag von 10'000 Franken, in ausserordentlichen Fällen könne der Betrag verdoppelt werden. Der Fonds wird mit einer halben Million geäufnet. 300’000 Franken stammen von den Bistümern, 150'000 Franken von der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz, 10'000 Franken hat die Vereinigung der Höhern Ordensobern (VOS'USM) beigesteuert. Für die verbleibenden 40'000 Franken hoffe man auf Ordensgemeinschaften, die über Geld verfügten, sagte Prestele bereits früher gegenüber kath.ch. Der Fonds wird von der Anwaltskanzlei Reichlin-Hess AG in Zug verwaltet.
Sylvia Stam
Statistische Übersicht 2010-2015
Das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der SBK hat seit dem Aufruf von 2010 jährlich eine Statistik der gemeldeten Fälle erstellt. Während 2010 im Zeichen des erstmaligen starken Aufrufs in der Schweiz 115 Fälle sexueller Übergriffe den diözesanen Stellen gemeldet wurden, waren die Zahlen der folgenden Jahre deutlich niedriger: 24 (2011), 9 (2012), 11 (2013), 11(2014), 24 (2015). Der grosse Teil der gemeldeten Fälle sexueller Übergriffe geschah in der Zeit von 1950 bis 1990. Die leichte Zunahme im Jahr 2015 hat damit zu tun, dass ein Institut in Freiburg in diesem Jahr Fälle aufgearbeitet hat, die länger zurückliegen. Von den 223 gemeldeten Opfern in diesen sechs Jahren waren zum Zeitpunkt der Taten 49 Kinder unter 12 Jahren, 23 weibliche und 56 männliche Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren, 43 erwachsene Frauen und 38 erwachsene Männer. Bei 14 Opfern waren über das Alter zum Tatzeitpunkt keine Angaben erhältlich. Von den 204 Tätern waren 103 Weltpriester, 47 Ordenspriester oder Ordensbrüder, 11 Ordensfrauen, 5 Laientheologen oder Laientheologinnen, 6 aus anderen Berufen. Zu 32 gemeldeten Tätern waren keine Angaben erhältlich. Die Statistik des Fachgremiums erfasst das ganze Spektrum möglicher sexueller Übergriffe von sexuell gefärbten Äusserungen und Gesten bis zur Vergewaltigung und Schändung. (SBK/sys)