Froh, dass nach neuen Wegen und nach der Wahrheit gesucht wird: Francesco Marra, Leiter des Pastoralraums Oberaargau. Foto: Pia Neuenschwander

Sich nicht distanzieren und höchst empathisch bleiben

Zwei Monate nach Publikation der Missbrauchstudie: Wie geht es Pfarreiverantwortlichen?

Am 12. September wurde die Schweizer Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche publiziert. Seither fangen kirchliche Mitarbeitende die Reaktionen der Gläubigen vor Ort auf. Pfarrei-, Pastoralraum- und Regionalverantwortliche erzählen, wie sie die Situation einschätzen und damit umgehen.

Aufgezeichnet von Anouk Hiedl / Fotos: Pia Neuenschwander

Gabriele Berz-Albert

«Die Menschen, die sich freiwillig engagieren oder unser Pfarreileben sonst aktiv mittragen, haben nicht besonders betroffen oder erschreckt auf die Publikation der Missbrauchsstudie reagiert. Teilweise haben sie sich gewundert, dass das ganze Problem in den Medien so viel Echo gefunden hat – nicht, weil sie das Ganze nicht schlimm finden, sondern weil es letztlich nichts Neues ist. Sie erinnern sich noch an die Aufdeckung des Problems und die Medienpräsenz von 2010. Die aktuellen Berichte zum Thema waren sehr unterschiedlich. Zahlreiche nutzten die Gelegenheit, am ohnehin angeschlagenen Bild der Kirche weiter zu kratzen. Es gab aber auch viele seriöse und behutsame Beiträge, die Hintergründe aufzeigten und das Problem in ein grösseres Ganzes einbetteten.

In der ländlichen Diaspora stösst man als Katholik:in gelegentlich auf Misstrauen. Aktuell werden wir vermehrt darauf angesprochen, ob und wie wir in einer Kirche arbeiten können, in der so schlimme Dinge geschehen. Darum braucht es momentan für uns alle mehr, uns aufs viele Positive, das in der Kirche geschieht, zu konzentrieren. Die Gratwanderung zwischen Enttäuschung, innerer oder äusserer Distanzierung, verbitterter Ablehnung und einer Verharmlosung der Missbrauchsproblematik, die vielleicht hilft, die eigene Seele zu schützen, ist nicht einfach.

Ich meine nicht, dass ich für andere büssen muss – weder als Privatperson noch in meiner Funktion als Seelsorgerin. Wenn ich mit Missbrauchsfragen konfrontiert werde, macht mich das aber persönlich betroffen, hilflos und traurig. Es ist herausfordernd, sich nicht von der Kirche als Ganzes zu distanzieren und dennoch ein Höchstmass an Empathie und Mitgefühl mit Betroffenen aufzubringen.

Diese Herausforderung findet sich im Seelsorgealltag immer wieder, nicht nur beim Thema Missbrauch. Interessant ist, dass mir bei den engagierten Freiwilligen und kirchennahen Menschen praktisch keine Vorwürfe begegnen, sondern eher ein stilles und solidarisches Mitgefühl für uns kirchliche Mitarbeitende, die weiterhin versuchen, in dieser schwierigen Situation die Botschaft Jesu vom Reich Gottes und vom Leben in Fülle weiterzutragen. In der Frage um Nähe und Distanz kann man wohl nie genug aufmerksam und (selbst-)kritisch sein.

Mit Erstaunen und Befremden habe ich in den letzten Wochen aber festgestellt, wie viel Zeit und Energie auch Menschen, die sonst wenig oder nichts mit der Kirche zu tun haben, in diese Diskussion stecken. Menschen sind hier und heutzutage frei, sich für andere Lebenskonzepte und Wertsysteme als fürs katholische zu entscheiden. Dafür braucht es keinen Anlass von aussen.

In unserer kleinen Pfarrei haben wir seit Mitte September fast doppelt so viele Kirchenaustritte wie sonst jeweils im ganzen Jahr. Der Anstieg ist also massiv. Es kann auch sein, dass die Veröffentlichung der Studie für Menschen, die sich von der Kirche distanziert haben, Anlass ist, den inneren Auszug mit dem Austritt nun auch formal zu vollziehen. Dass Menschen andere benutzen, instrumentalisieren oder missbrauchen, ist unter keinen Umständen zu dulden und zu entschuldigen. Ich bin froh, dass diese Dinge nun ans Licht kommen.

Vor einem grösseren Horizont ist die brennendere Frage für mich aber, wie es uns als Kirche heute gelingen kann, Gottes gute Botschaft an die kommenden Generationen weiterzutragen, Räume zu schaffen, wo Menschen dem Göttlichen begegnen können, eine Weggemeinschaft zu bleiben, die von einer grossen Verheissung dazu angetrieben wird, hartnäckig für Gerechtigkeit und Frieden einzustehen. Die Hoffnung, dass Gottes Geistkraft den Weg dahin zeigt, trage ich in mir – ein bisschen deutlichere Zeichen ihrer Gegenwart wünsche ich mir.»

Francesco Marra

«Die Reaktionen auf die Resultate der Missbrauchsstudie fallen hier sehr vielfältig aus. Alle hängen von mitbekommenen Medienbeiträgen und persönlichen Erfahrungen ab. Am meisten beeindruckt haben mich Kirchenaustrittsbriefe, die grosse Enttäuschung und mangelnde Hoffnung ausdrücken.

Die mediale Berichterstattung zur Publikation dieser Studie hat die Befindlichkeit der Katholik:innen vor Ort sehr beeinflusst. Dass einige Fakten verschwiegen und andere hervorgehoben wurden, hatte Konsequenzen und wird noch weitere nach sich ziehen. Die Auftraggeber der Pilotstudie wurden zu selten genannt. Mehrmals hatte ich auch den Eindruck, dass die mediale Absicht darin bestand, die katholische Kirche der letzten 70 Jahre zu blockieren, statt mit zu Verbesserungen in den nächsten 70 Jahren zu führen.

Manche Beiträge hingegen führten die Debatte von der destruktiven Boulevardstufe auf eine konkrete, inspirierende reformatorische Ebene. In den letzten Tagen ist mir eine Passage aus dem Johannesevangelium eingefallen. Die Apostel Jesu begegnen einem sehr kranken, armen Menschen. Sie schaffen es nur zu fragen: «Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt?»

Solange wir eine Urteilsmoral und keine Handlungsethik in der Tasche haben, und solange wir diese Passage einzig in der Erwartung eines Wunders lesen, bleiben wir beim Thema Schuld stehen – einer Schuld, die jemandem zugeschoben werden muss. Klar, dass nicht die Abwesenden zahlen. Die Anwesenden haben aber auch das Privileg, sich verbessern und weiterentwickeln zu können.

Der Zukunft der katholischen Kirche sehe ich zuversichtlich entgegen. Ich freue mich, für ein Bistum zu arbeiten, das bei sexuellem Missbrauch im Umfeld der Kirche die Wahrheit sucht und dazu mit unabhängigen Stellen zusammenarbeitet. Ich bin dankbar, dass die Landeskirche nach neuen Wegen sucht. Und ich habe das Glück, dass meine Kirchgemeinde offen kommuniziert, was sie erwartet und wofür sie sich engagiert. Die nicht immer einfache Debatte zwischen diesen drei Partnern zeigt, dass der Kulturwandel bereits begonnen hat und wir Teil einer Kirche sind, die unterschiedliche Kompetenzen respektiert – administrative, pastorale und rechtliche.»

Petra Leist

«Auf die Publikation der Missbrauchsstudie haben die einen in unserem Pastoralraum bestürzt reagiert, während andere meinten, man hätte auch früher schon davon gewusst. Wieder andere sind aus der katholischen Kirche ausgetreten. Viele bedauern, dass so viel gute Arbeit der Kirche in Misskredit kommt.

Aus unserem Team mussten sich manche verteidigen, noch für die Kirche zu arbeiten. Man sieht die eigene Arbeit erschwert und kann sich nicht mehr natürlich verhalten. Dennoch ist da gleichzeitig der Wille, das, was im Glauben bewegt, was die eigene Berufung ist, den Menschen weiterhin ungebrochen zur Verfügung zu stellen.

Ich persönlich kann nur still sein bei dem lebenslangen Leid, das Menschen von Vertrauenspersonen zugefügt wurde, von Vertretenden der Botschaft vom Vertrauen ins Leben und in Gott. Und ich kann das Meine tun – in den eigenen Kreisen aufmerksam und nicht vertrauensselig sein und Menschen helfen, die Frohe Botschaft Gottes von menschlichem Versagen zu trennen.

Als Kirche vor Ort müssen wir einerseits für die Verfehlungen anderer büssen, andererseits glätten sich die Wogen auch. Es kommt immer darauf an, wie nah und informiert Personen sind, wie interessiert an Details und wie engagiert für den Glauben. Die Kirche und die Pfarreien sind ohnehin vor ein Umdenken und vor Strukturreformen gestellt. Synodale Wege sind aufgegleist – wenn diese auch beschritten würden, wäre schon etwas Vertrauen wiedergewonnen. Dabei ist die Verfasstheit zweitrangig.

Die Urkirche hat durch die Strahlkraft ihres Glaubens überzeugt, durch ihr Engagement füreinander, für Gerechtigkeit und Frieden, ja für die Welt.»

Edith Rey Kühntopf

«Als Regionalverantwortliche bin ich anders als Seelsorgende nicht unmittelbar mit den Menschen vor Ort in Kontakt. In allen Gesprächen wird die Missbrauchsstudie dennoch schnell zum Thema. Die Resultate beschäftigen die Menschen. Ein Teil ist wütend und enttäuscht. Anderen zerstört es ein Bild, das sie von Kirche hatten, und sie sind entsetzt ob dem, was sie hören. Häufig sind die Reaktionen sehr emotional, verbunden mit Tränen.

Obwohl das Studienergebnis für mich keine Überraschung war, hat das Ganze auch mich tief getroffen und nächtelang beschäftigt. Es wäre schöner, sich mit anderem zu beschäftigen, aber das geht nicht. Es braucht extrem viel Kraft, hinzustehen und auszuhalten.

Das Thema beschäftigt mich, uns, wir überlegen, wo wir Unterstützung anbieten können, ermutigen zu Gesprächen und hören zu. Mit meinen Arbeitskolleg:innen spreche ich viel über die Thematik. Das hilft mir, hinzustehen und entgegenzunehmen. Ich lese viel darüber, versuche, einzuordnen und einen ehrlichen und sachlichen Blick zu entwickeln, ohne die Empathie zu verlieren oder die Perspektive der Betroffenen zu übersehen.

Vielerorts sind die Kirchenaustritte dramatisch hoch. Das wird Auswirkungen auf die Tätigkeiten der Kirche haben – es wird schlicht weniger Geld zur Verfügung stehen, um Projekte zu lancieren, um soziale Institutionen zu unterstützen, um Personal anzustellen.

Die Verfehlungen stammen von Menschen, die von einem System begünstigt und gedeckt wurden. Insofern tragen wir als Kirche, als Ganzes und auch vor Ort, die Geschichte mit.

Menschen, die einen nahen Bezug zur Kirche haben, setzen sich mit der Thematik auseinander, schreiben aber nicht unbedingt den Austrittsbrief. Menschen, die schon länger auf Distanz waren und unsicher sind, ob sie bleiben sollen, machen nun zuhauf diesen Schritt. Insofern leidet die Kirche vor Ort und muss sich wieder Glaubwürdigkeit erarbeiten. Das wird viel Zeit brauchen. Es war gut, diese Untersuchung anzustossen. Nun muss die Kirche die Situation aufarbeiten. Bildlich gesprochen: Die Kellertür, die geschlossen war, ist jetzt aufgestossen – es muss Licht in diese dunklen Winkel kommen, es muss gründlich aufgeräumt werden. Erst dann können wir wieder einen Blick in die Zukunft tun und versuchen, Vertrauen aufzubauen.»