Giovanni Gjokai, aus dem Kosovo, spielt Orgel für die albanische Mission in Zollikofen
«Singe, und wir sind Brüder und Schwestern!»
Der Chor der Nationen Bern bringt über 90 Personen aus mehr als 25 Ländern zusammen. Über Musik, die Sprachgrenzen überwindet und den Mut, interkulturelle Kontakte zu schaffen.
«Sprich, und du bist mein Mitmensch! Singe, und wir sind Brüder und Schwestern!» Theodor von Hippel, deutscher Staatsmann der Aufklärung, mag sich nicht vorgestellt haben, als wie wahr sich sein Aphorismus dereinst herausstellen sollte. Interkulturelle Verständigung kann noch viel mehr sein als miteinander reden – miteinander singen nämlich.
Von Sebastian Schafer
2012 gegründet, bringt der Chor der Nationen Bern über 90 Personen aus mehr als 25 Ländern zusammen. Gemeinsam mit ihrem professionellen Chorleiter erarbeiten sie Lieder aus ihren Heimatländern.
Egal ob arabische, afrikanische, asiatische, russische oder schweizerische Volksmusik: Der Chor der Nationen singt sie alle. Die musikalische Vielfalt sei nicht immer einfach, meint Chor-Präsidentin Theres Spirig-Huber. Musik aus verschiedenen Kulturkreisen unterscheide sich zum Teil stark: Arabische Musik beispielsweise kenne Vierteltöne, was SängerInnen, die sich das westliche Tonsystem gewöhnt seien, ziemlich herausfordere. Die grösste Schwierigkeit seien aber die Sprachen. Zum Glück könne man diese aus erster Hand lernen: Jemand mit der jeweiligen Muttersprache spreche den Text vor und bringe den anderen die richtigen Betonungen bei.
Im Mittelpunkt des Chors steht die Inklusion. Nicht einfach das Anpassen von Neuem an Bestehendes, sondern gemeinsames Schaffen sei das Ziel, so Spirig-Huber. Man müsse sich gegenseitig integrieren. Die Gefahr bestehe beispielsweise auch, dass plötzlich die fremdländische Musik zu stark gewichtet werde – was auch nicht sein dürfe: Uns Schweizer brauche es genauso. Und auch wir hätten ja unterschiedliche Kulturen.
Es brauche mehr gegenseitigen Kontakt in Sachen Integration, findet auch Mustafa. Der gebürtige Syrer ist seit einem halben Jahr im Chor dabei. Das ist erstaunlich, bedenkt man, dass er erst seit eineinhalb Jahren in der Schweiz ist. Er wolle sich integrieren, betont Mustafa. Er wolle arbeiten, und dafür müsse er zuerst Deutsch lernen – und das passiere nicht von selber. Er sei aber auch ein offener Mensch. «Ich frage immer, suche den Kontakt, möchte reden. So bin ich. Für andere ist das sicher schwieriger.»
Die Geschichte von Mustafa erzählt sich wie zahlreiche andere auch. Ältester unter vielen Geschwistern, floh er aus dem zerstörten Syrien, weil die Familie Geld brauchte. Keine Arbeit, keine Hoffnung. Der Kurde stammt aus der nordsyrischen Stadt Qamischli, im heiss umkämpften und de facto autonomen Gebiet Rojava. Mustafa nahm den Landweg, in Lastwagen, er erinnert sich an eisige Kälte, Dunkelheit, Angst. Jetzt ist er in der Schweiz. Ich frage ihn, ob er nach Hause zurückkehren möchte. «Nein», sagt er leise. «Ich kann nicht. Meine Familie überlebt nicht ohne das Geld, das ich ihr schicke. Ich bin ihre einzige Chance.» Und: Wenn er nach Syrien zurückkehrte, würde er vom Militär inhaftiert – oder sogar getötet.
Auch Valentine hatte am Anfang Mühe, Fuss zu fassen in der Schweiz – auch wegen fehlendem Kontakt zur hiesigen Kultur. Die Togoerin kam vor 13 Jahren in die Schweiz. «Zwar habe ich den Deutschkurs besucht, dann aber zu Hause nur Französisch gesprochen, vor allem mit anderen Leuten aus dem Togo … Plötzlich habe ich gemerkt, dass ich nicht integriert bin. Da beschloss ich, ich muss Kontakte finden.» Valentine trat dem Chor bei, engagierte sich in der Pfarrei, arbeitet jetzt in einem Eltern-Kind-Treff. «Und jetzt fühle ich keine Barriere mehr.» Aber: Es sei schwierig, die eigene Kultur zu behalten – und sich gleichzeitig als Schweizerin zu fühlen.
«Wenn man hier leben will, muss man die Schweizer Kultur zwar annehmen. Aber die eigene darf man nicht vergessen», meint Giovanni Gjokai aus dem Kosovo. Auch er hatte am Anfang Mühe, sich in der Schweizer Kultur zurechtzufinden. Seit 36 Jahren ist Gjokai in der Schweiz und seit der Gründung des Berner Chors der Nationen treues Mitglied. Gjokai gehörte zur katholischen Minderheit im Kosovo und war schon in seiner Heimat musikalisch engagiert, sang in einem Chor und besuchte die Musikschule.Heute spielt er Orgel bei der albanischen Mission und arbeitet als Sakristan in St. Franziskus Zollikofen. Er fühle sich als Schweizer, es sei ihm aber auch schnell gelungen, sich auf die hiesige Kultur einzulassen: «Ich kann mit jedem Menschen leben.»
Alle drei kennen aber auch Landsleute, denen die Integration nicht gelingt: «Kolleginnen, die nicht aus dem Haus wollen, sondern nur am Telefon mit Freundinnen reden, auf Französisch», meint Valentine. Sie sagten, sie könnten nicht gut Deutsch, hätten kein Interesse an Projekten wie dem Chor. «Nach dem letzten Konzert aber kamen dann einige zu mir und fragten mich: Wie hast du das gemacht? Du bist die einzige dunkle Frau, wie bist du da reingekommen? Sie wissen nicht, wie in Kontakt kommen, haben manchmal Angst – vor Vorurteilen.» Diese Hemmungen abzubauen, einen niederschwelligen Zugang zu interkulturellen Kontakten zu bieten, ist ein Ziel des Chors der Nationen.
Was Giovanni, Valentine und Mustafa verbindet, ist ihre Offenheit, ihr Interesse – und ein Stück weit ihre Furchtlosigkeit. Denn einfach mal hinzugehen, ohne jemanden zu kennen, braucht viel Mut – von allen Beteiligten. Wie dieser Mut gefördert werden kann, leben die Sänger und Sängerinnen vor.
«Tradition bewegt!» Jahreskonzert Chor der Nationen.
Samstag, 25. November, Französische Kirche Bern, 19.00.
Billette zwischen Fr. 7.50 und 45.00 erhalten sie in den meisten Postfilialen oder unter www.starticket.ch.
Weitere Infos: www.chordernationen.ch
Hinweis: Bilderausstellung und -verkauf zugunsten des Chors der Nationen in der Französischen Kirche in Bern.