Mit, nicht für! Christian Herwartz SJ. Foto: zVg
Strassenexerzitien
Barmherzigkeit auf der Strasse. Jesuitenpater Christian Herwartz kommt nach Thun und nach Bern.
Der Jesuitenpater Christian Herwartz hat sich vor kurzem nach 40 Jahren aus seiner Wohngemeinschaft in Berlin Kreuzberg verabschiedet. Exerzitien auf der Strasse sind vor etwa zwanzig Jahren in Berlin geboren worden.
Christian Herwartz und seine Wohngemeinschaft in Kreuzberg wurden zu einer Bewegung, die inzwischen weit verbreitet ist und «Strassenexerzitien» genannt wird. Ich will hier nicht einen Lebenslauf oder sonstige Daten und Taten von Pater Christian abhandeln. Das würde in der Kürze auch nicht funktionieren. Das alles kann man in seinen Büchern, die er immer mitWeggefährten schrieb, und im Internet «www.strassenexerzitien.de» nachlesen. Nein, ich will von einigen meiner Erlebnisse und Erfahrungen um und mit Pater Christian erzählen.
Durch einen begeisterten Teilnehmer der Strassenexerzitien erfuhr ich schon im Sommer 2006 von ihm. Diese Begeisterung erfasste auch mich. Trotzdem dauerte es sieben Jahre, bis ich an der Tür in Berlin Kreuzberg klingelte, auf der «WGChristian Herwartz» stand. Ich lud ihn damals als Referent zum Jahr des Glaubens nach Thun ein. Erst zwei Jahre und einige Besuche in Berlin später traute ich mich, an einer Woche Strassenexerzitien teilzunehmen. Ich brauchte Mut, Offenheit und eine tiefe innere Bereitschaft, mich auf diese ganze Woche Exerzitien einzulassen. Ich wusste schliesslich nicht genau, was auf mich zukommt.
Es wurde eine Woche der tiefsten Erfahrungen, die ich bisher auf meinem Glaubensweg gemacht habe. Bruder, Schwester sein und Gastfreundschaft sind zentrale Grundsätze bei Pater Christian. Klingelt man an der Haustür, wird ohne Gegenfrage geöffnet. Es wird nicht gefragt: «Wo kommst du her», sondern «Willst du etwas trinken?» Man sitzt am Küchentisch, darf erzählen und es wird zugehört. Nie in meinem ganzen Leben wurden mir Menschen so schnell Familie wie in meiner Zeit in der WG-Christian Herwartz. MitMenschen aus verschiedenen Ländern, Religionen und schwierigen Lebenssituationen zusammenzuleben, war eine weitere, wertvolle Erfahrung, die ich machen durfte.
So stelle ich mir vor, wie damals die Jünger mit Jesus unterwegs waren. Ohne Gepäck, ohne Essen, ohne Geld und ohne Sicherheit, aber mit vielen Fragen und Zweifeln. Nach zwei Tagen auf den Strassen Berlins überwogen bei mir die Zweifel. Ich fragte mich wieder einmal, ob Gott überhaupt existiert und er tatsächlich Interesse an dieser Welt und den Menschen hat. Pater Christian und seine Begleiterinnen hörten jeden Tag zu, gaben Impulse und fragten nach, manchmal auch herausfordernd.
Einmal schlief ich zwei Nächte draussen im Pfarreigarten unserer Unterkunft unter dem sommerlichen Sternenhimmel. In einer Nacht trieb es mich auf die Strasse mit der Frage im Herzen: «Wo finde ich dich, Gott?» In dieser Nacht fand ich die Antwort. Gott gab sie mir durch eine junge Frau aus Italien, die sich bewusst und ohne Not dem Leben auf der Strasse aussetzte.
Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, nicht ganz so steil einzusteigen, in Form von Tagesexerzitien, die wir mit Christian Herwartz auch in Thun anbieten werden (Programm siehe Infobox). Dabei bekommt man eine Ahnung, was Exerzitien auf der Strasse bedeuten könnten, jede und jeder so, wie sie/er kann, mit der eigenen Art und dem eigenen Tempo. Auch in seinem neuen Buch erfährt man aus Erzählungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern vieles über diese spezielle Form der Exerzitien. Gottesdienste am Küchentisch, Kommunitätsabende, offenes Samstagfrühstück und vieles mehr zeigten mir eine alltäglichen aber dennoch besondere Spiritualität, die ich bisher so nie in einer Pfarrei gefunden habe. Mit den Menschen, nicht für die Menschen, ist einer der Lieblingssätze von Pater Christian. Er lebt kein Christentum von oben herab, sondern von unten, von der Strasse und auf der Strasse. Türen öffnen und zurück auf die Strasse gehen, das ist der Weg. Jesus finden wir, so wurde mir klar, mitten auf den Strassen des Lebens. Ich freue mich sehr darauf, mit Pater Christian auf den Strassen von Thun und Bern unterwegs zu sein.
Conny Pieren
Buchtipp: Michael Johannes Schindler (2016): Gott auf der Strasse. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Strassenexerzitien. Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik.
Besuch von Pater Christian Herwartz. Programm Thun und Bern:
Samstag, 4. Juni, 10.00–18.00, Thun: Strassenexerzitien für einen Tag
Treffpunkt Pfarreizentrum St. Marien, Kapellenweg 7, 3600 Thun . Anmeldung: pieren@kaththun.ch
Sonntag, 5. Juni, 09.30, Pfarrei St. Marien, Thun: Gottesdienst mit Christian Herwartz, ansschliessend Lesung 11.00–12.00
Montag, 6. Juni, 19.30, Pfarrei Dreifaltigkeit Bern, Rotonda, Sulgeneckstrasse 13: Lesung mit Christian Herwartz. Der Abend wird moderiert durch Dr. theol. Bernhard Waldmüller, Co-Dekanatsleiter und musikalisch umrahmt von Giorgio Schneeberger auf demSaxophon.
Der Eintritt ist frei; um Kollekte wird gebeten. Die ökumenische Buchhandlung Voirol bietet Bücher zum Verkauf.