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Tanzen
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Die Patientin kenne ich schon eine ganze Weile. Ich habe sie bereits mehrmals auf der Station besucht, und wir konnten auch schon einige kürzere Gespräche führen. Dabei hat sie mir erzählt, wie sie mit der Krankheit umgeht und was diese für ihr Leben bedeutet. Immer wieder muss sie lernen, mit neuen körperlichen Einschränkungen umzugehen, sich von lieb gewonnenen Dingen zu verabschieden und gewohnte Tagesabläufe, die Sicherheit und Stabilität im Alltag bieten, zu ändern. All das alles erfordere Kraft und viel Zuversicht, um nicht einfach zu resignieren.
Wir sprechen über persönliche Energiespender, die es ermöglichen, auch schwierige Situationen im eigenen Leben anzugehen und Widrigkeiten im Alltag zu meistern.
Früher war es das Tanzen. Seit sie im Rollstuhl sitzt, sei diese grosse Kraftquelle weggefallen. Ich frage nach, will ganz genau wissen, zu welcher Musik sie jeweils getanzt habe, ob sie eine genaue Schrittfolge eingehalten habe, Einzel- oder Paartanz. Die junge Frau erzählt und erzählt. Dabei muss sie immer wieder kurze Pausen einlegen – das Sprechen ist sehr anstrengend –, trotzdem kommt es mir vor, als könne ich den Rhythmus der Musik in ihrer Stimme hören. Durch ihre detaillierten Schilderungen sehe ich sie vor mir tanzen. Also frage ich sie, was sie daran hindere, jeden Tag zu tanzen. Auf dem Nachttisch sehe ich einen Kopfhörer, die passende Musik hat sie sicher in ihrem Handy gespeichert und die Tanzschritte kennt sie auswendig – sie müsste bloss die Augen schliessen und sich auf den Rhythmus der Musik einlassen.
Als ich drei Tage später wieder ins Zimmer der Patientin gehe, strahlt sie mich an und fragt: «Sollen wir zusammen tanzen?»
Patrick Schafer, Seelsorger im Inselspital