Die Schwächsten werden zurückgelassen – und in diesem Fall muss das Hündchen zu Hause bleiben. Foto: Tanja Läse

Theater ist eine Empathieschule

29.11.2017

Interview zum Weihnachtsspiel: Eine moderne Flüchtlingsgeschichte mit dem kryptischen Titel «Hündchen muss zuhause bleiben».

Die Weihnachtsgeschichte ist eine Flüchtlingsgeschichte. Eine werdende Mutter und ihr Ehemann, die keine Heimat finden, unter widrigsten Umständen ein Kind bekommen, und mit diesem dann flüchten müssen. Vor Verfolgung und Tod und in eine ungewisse Zukunft.

Die Geschichte von Marya und Yussuf, die die Pfarrei St. Antonius in Bümpliz in ihrem musikalischen Weihnachtsspiel aufführt, ist eine solche Flüchtlingsgeschichte. Unter dem Titel «Hündchen muss zuhause bleiben» erzählt der Theologe und Schriftsteller Angelo Lottaz vom Schicksal einer syrischen Familie, die mit dem Schiff nach Europa flieht – nur um hier keine Heimat zu finden.

Vertont wurde die Geschichte von Bruno Wyss. Neben den professionellen HauptdarstellerInnen stehen zahlreiche Laien auf der Bühne: Menschen verschiedenster Konfession, Religion und Nation. Gemeinsam mit ihnen sorgen die Anthony Singers sowie ein Kinderchor für musikalische Gänsehautmomente. Regie führte der freie Theaterregisseur Martin Gallati, Projektleitung und Dramaturgie übernahm die ehemalige Schauspielleiterin am Konzert Theater Bern, Stephanie Gräve.

Die Idee einer modernen Flüchtlingsgeschichte habe sie von Anfang an gepackt, so die Dramaturgin. Das «pfarrblatt» hat Stephanie Gräve und den Autor Angelo Lottaz zum Gespräch getroffen – über das Stück, aber auch über die Bedeutung von Weihnachten, Flüchtlingspolitik und Empathiefähigkeit.

«pfarrblatt»: «Hündchen muss zuhause bleiben» – Wieso dieser kryptische Titel?

Angelo Lottaz: Stephanie ist schuld! (lacht)

Stephanie Gräve: Ich war zuerst nicht sicher, ob das vielleicht zu kitschig ist, aber jetzt finde ich es auf gute Art kitschig. Es ist ja ein sehr ernstes Thema. Da fand ich einen Bruch nötig.

Lottaz: Und mittlerweile finde ich den Titel gut. Es sind ja immer die allerschwächsten, die zurückgelassen werden. Und das Hündchen in unserem Stück ist das allerschwächste, noch schwächer als die Kinder.

Sie sagen es selbst: Die Thematik von Flucht und Vertreibung hat eine Schwere. Wird das zuweilen aufgelockert?

Gräve: Die Musik schafft das zwischendurch. Aber es bleibt die Geschichte einer Familie, die fliehen muss und keine Heimat findet.

Lottaz: Für mich war von Anfang an klar, dass das Stück in der Gegenwart spielen muss. Dann kam meine Theologie ins Schleudern. Weihnachten 2017, was gibt es da theologisch noch zu sagen? Warum ist Gott auf die Welt gekommen? Weil doch einfach shit ist, was da unten abgeht.
Weihnachten gibt es, weil es so viel Versehrtheit gibt, und dann kam mir die Geschichte von Hiob ins Bewusstsein.
Für solche Menschen ist Weihnachten schliesslich da! Nur hat man das inzwischen ausgeblendet und nur noch das Gloria und Halleluja behalten. Und das ist ja auch schön, für das sorgt eben die Musik. Aber es ist nicht alles.

Gräve
: Szenisch entwickelt sich manchmal durchaus eine absurde Komik, gerade auch durch die Besetzung. Wenn der Asylbewerber aus dem Togo den Schweizer Opernsängern, die Flüchtlinge spielen, entgegenschmettert, dass er die Schweizer Kultur gegen sie verteidigen müsse … Das sind komische Momente, Tragikomik eigentlich.

Lottaz: Das Stück ist ja nicht nur dunkel. Die Hoffnung, dass das kleine Mädchen eine Zukunft hat, kann nicht gebrochen werden. Auch wenn die Familie dann wegziehen muss. Und es gibt eine kleine Bekehrung: Einer der Asylbeamten nimmt Blickkontakt auf mit dem Mädchen, und etwas passiert. Simone Weil hat das mal auf den Punkt gebracht: Wo Menschen genau hinschauen, wird vieles unmöglich – genau hinschauen, das heisst sehen: Hier ist ein Mensch wie ich.

Gräve: Ich glaube, man spürt auch die Liebe in dieser Familie. Das ist der Grund, wieso man Hoffnung für sie hat, weil man weiss, die gehören so zusammen, die werden’s irgendwie schaffen.

Was sollen die Zuschauer aus diesem Weihnachtsspiel mitnehmen?

Lottaz: Ich hoffe, dass das Ganze nicht moralisierend ankommt. Menschliches Berührtsein sollen sie aber mitnehmen.

Gräve: Ich fände es schon gut, wenn sie anfangen würden, sich Gedanken über das Schicksal von Flüchtenden zu machen. Die Empathie nimmt leider ab in unserer Gesellschaft, aber Theater kann eine Schule der Empathie sein. Denn eben: In dem Moment, in dem man einen Menschen anschaut, kann man sich ihm nicht mehr entziehen.
Und wenn man über ein solches Stück einen Moment des Innehaltens erzeugen kann, dass man, wenn man das nächste Mal sein Kreuz irgendwo hinmachen muss, Marya vor Augen hat, die davon singt, wie sie um das Leben ihres Kindes fürchtet … dann ist schon was erreicht. Das mag jetzt kitschig und moralisch sein, aber ich denke, in unserer Gesellschaft kann man etwas Moral durchaus gebrauchen.

Lottaz: In der Ethik geht man davon aus, dass Empathiefähigkeit die Grundlage jeder Moralfähigkeit ist. Wer Empathie niemals selbst erlebt hat, wird sich schwertun, eine verantwortungsvolle Ethik zu entwickeln.

Wie spielt die Musik in die Geschichte hinein?

Lottaz: Bruno Wyss ist genial, weil er ganz viel Implizites eingefügt hat. Ein kleines Beispiel:Es gibt eine Stelle, wo Grenzwächter auftreten. Dort zitiert die Musik den Militärmarsch «Marignan» von Jean Dätwyler. Wer’s kennt, kennt’s, und wer’s nicht kennt … Macht auch nichts. Ich mag an der Musik, dass sie etwas Diskretes hat. Sie lässt Dinge mitschwingen und haut nicht mit der Keule drauf.

Könnte es sein, dass die Darstellung als einseitig kritisiert wird – dass Flüchtlinge hier als Heilige dargestellt würden und die Schweizer als die Bösen?

Lottaz: Das ist nicht zu vermeiden, aber diese Kritiker haben dann etwas nicht begriffen.

Gräve: Das Ereignis ist, dass die Flüchtlinge nicht als Heilige, sondern einfach als ganz normale Menschen gezeigt werden. Und die Grenzbeamten sind ja auch nicht böse! Die verteidigen einfach ihren Standpunkt. Mir haben schon Schweizer gesagt, dass sie die wachsende Verarmung besorgniserregend finden. Diese Sorge kann man sich schwer vorstellen, wenn man aus dem Ruhrgebiet kommt mit einer Arbeitslosigkeit von bis zu 14%.

Wobei man in Bümpliz schon eher Armut sieht, Altersarmut. Es geht ja immer auch um Verlust, dass es schlechter werden könnte. Wenn in meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, wo wegen Geldmangel Schulunterricht ausfallen muss, gesagt wird, und jetzt müssen wir noch für Flüchtlinge aufkommen, ist das nachvollziehbarer als in der Schweiz.

Lottaz: Vielleicht ist die erste Aufgabe, eine andere Haltung zu finden, ohne zu wissen, was dann die Lösung ist. Wir gehen immer von der Lösung aus. Wenn ich aber die Haltung vertrete, dass da Menschen sind, die irgendwie über die Runden kommen müssen, ganz egal wie? Dann werden die Lösungen anders aussehen. Klar, es ist eine Frage der Gerechtigkeit.

Wir können und sollen über Gerechtigkeit sprechen! Aber dann müssen wir zuerst klarstellen: Es gibt keine absolute Gerechtigkeit. Sagen wir doch zuerst etwas dazu, dass wir das Glück haben, in der Schweiz und das Flüchtlingskind das Pech hat, in Syrien geboren zu sein. Das ist der Ausgangspunkt.

Sagen Sie das auch Schweizern, die von Altersarmut geplagt sind?

Lottaz: Es geht doch darum, dass sich die Menschen, die untendurch müssen, nicht gegen andere, die auch untendurch müssen, ausspielen lassen – im Gegenteil, die wissen ja, wie es denen unten geht. Es sind ja meistens auch nicht die Altersarmen, die sich am lautesten über Flüchtlinge beschweren.

Gräve: Aber das ist ein interessantes Phänomen. Die Menschen lesen von den Paradise Papers und denken: Wow, das ist aber heftig. Und dann nehmen mir die Flüchtlinge auch noch mein Geld weg. Das ist doch absurd.

Lottaz: Rationale Sorgen soll man ernst nehmen. Aber diese von den rechten Parteien geschürten Ängste, da muss ich mit gesundem Geist versuchen, Klarheit zu schaffen – auch wenn ich weiss, dass das fast nicht geht.

Gräve: Ich muss eben auch sagen: Auch ich fühle mich teilweise, zum Beispiel in Berlin nachts in Bahnhöfen und besonders als Frau, nicht mehr sicher. Ich bemerke eine weit aggressivere Grundstimmung in unserer Gesellschaft als noch vor wenigen Jahren, da braucht man sich nichts einzureden.

Aber trotzdem: Ich habe mal mit einem amerikanischen Freund darüber gesprochen, wieso viele US-Bürger kein öffentliches Gesundheitswesen wollten. Neben dem ganzen Freiheitszeugs meinte er, es werde auch viel ausgenutzt. Und da kommt die Frage der Verhältnismässigkeit ins Spiel. Ich habe lieber hundert Leute, die das System ausnutzen, als eine Person, die stirbt, weil sie ihre Behandlung nicht bezahlen kann.

Die Tendenz ist da, immer nach unten zu schauen. Dass man eben nicht die Leute oben anklagt, die von Steuerhinterziehungen profitieren, wie wir beispielsweise von den Paradise Papers wissen. Man tritt eben gegen unten.

Im Stück schweigt Gott. Haben Sie bewusst einen schwerhörigen Gott gezeichnet?

Lottaz: Gott ist nicht einfach schwerhörig. Sondern nur dort, wo die Menschen denken, dass Gott machen soll, was sie machen sollten. Der Witz an Weihnachten ist ja, dass Gott dieses Kind auf die Welt geschickt hat. Aber die Menschen merken gar nicht, dass da Gott in der Krippe hockt! Der schreit und weint und versucht zu überleben. Wenn ich mir Gott als allmächtigen Weltenherrscher mit weissem Bart vorstelle, dann schweigt er tatsächlich, weil er ja nicht so ist. Nein, er ist da. Im Moment, wo die Menschen sich aufeinander einlassen, ist er da.

Interview: Sebastian Schafer

Veranstaltungstipp: Einführung ins Stück am 4. Dezember mit Angelo Lottaz
Alle Infos im Pfarrblatttipp

«Hündchen muss zuhause bleiben»
Ein musikalisches Weihnachtsspiel von Angelo Lottaz (Libretto) und Bruno Wyss (Musik). Mit Damaris Blum, Manuela Garrido, Niklaus Loosli. Vorstellungen: 16. Dezember, 19.00 (Premiere); 17. Dezember, 17.00; 23. Dezember, 18.00. In der Kirche St. Antonius,Bern- Bümpliz.
Eintritt 30.–/15.–, Kinder bis 10 haben freien Eintritt! Reservationen unter Tel. 031 996 10 95 oder Direktkauf Mo–Fr 9.00–11.30 Sekretariat St. Antonius, Burgunderstr. 124, 3018 Bern.