
Anhand von Sarah Bergers Geschichte erläutern Fachpersonen, wie nach einem Trauerprozess ein Neuanfang gelingen kann. Foto: Ruben Sprich
Trauern, um sich dem Leben wieder zuwenden zu können
Sarah Berger hat vor sechs Jahren ihren Mann verloren. Heute lebt sie in einer neuen Beziehung. Anhand ihrer Geschichte erläutern zwei Fachpersonen, wie nach einem Trauerprozess ein Neuanfang gelingen kann.
Sylvia Stam
«Ich bin überzeugt, dass Norbert sich freut, wenn es mir wieder gut geht», sagt Sarah Berger (55). Ihr Mann erlitt vor sechs Jahren einen Herzinfarkt. «Norbert ist an einem Donnerstagmorgen beim Joggen zusammengebrochen.»
Eine Freundin, die zufällig vorbeilief, war Zeugin des Vorfalls und rief die Ambulanz an. Trotz Reanimation konnte er nicht wiederbelebt werden. Die Freundin rief ihre Praxiskollegin an, die Sarah Berger die Nachricht überbrachte. «Ich weiss noch, welcher Patient gerade bei mir war», erinnert sie sich.
Abends erzählte sie es ihren Kindern, die damals 10, 13 und 21 Jahre alt waren: «Es ist etwas ganz Schlimmes passiert. Papa ist gestorben.» Den Zweitältesten, 18, der im Ausland weilte, bat sie, so rasch wie möglich nach Hause zu kommen. Sarah Berger braucht wenig Worte, um das, was folgte, zu beschreiben: gemeinsames Wehklagen. «Wie überleben wir diese Nacht? Wie den nächsten Tag?»
Schreiben als Überlebensstrategie
Die ersten Tage und Wochen gab es viel zu organisieren. Der Leichnam ihres Mannes wurde zu Hause aufgebahrt. «Das hatte etwas Heilsames», sagt Sarah Berger rückblickend. «Er lag da und war ein Teil von uns.» Hilfreich seien in dieser Zeit ganz konkrete Handlungen gewesen: «Eine Freundin hat für uns Lasagne gekocht. Viele haben mit uns Erinnerungen ausgetauscht.»
Selbst hat sie intensiv Tagebuch geschrieben, eine «Überlebensstrategie», wie sie sagt. «Ich schrieb Norbert Briefe und notierte auch seine möglichen Antworten.» Für Sarah Berger ist klar, «dass es nach dem irdischen Leben nicht einfach fertig ist. Seine Energie, sein Wesen ist noch da. Ich tausche mich mit ihm aus.» Das sei bisweilen auch ein Hadern gewesen. «Du bist ohne Abschied gegangen und lässt mich hier allein!», erzählt Berger.
Sarah Berger hatte Vertrauen in sich und ihre Kinder, dass es gut kommt. Nebst Gesprächen mit Freundinnen hat sie professionelle Hilfe in Anspruch genommen und dies auch ihren Kindern ermöglicht, sofern sie dies wollten. Die Trauerfeier im Rahmen eines katholischen Gottesdienstes hat sie als hilfreich erlebt: «Es kamen so viele gute Menschen, um sich von Norbert zu verabschieden.» Die Urne hatte nach der Kremation noch anderthalb Jahre ihren Platz in der Stube, bevor die Asche im Aletschgebiet verstreut wurde.

Spirituelle Haltung
Für Claudia Graf, Beauftragte für Spezialseelsorge und Palliative Care der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, ist ein solcher «bewusster und achtsamer Umgang mit der Trauer» Ausdruck einer «spirituellen Haltung». Graf fasst den Begriff «spirituell» weit: «Verbunden sein mit sich, mit anderen und/oder mit etwas, das darüber hinausgeht.» Der Bezug auf etwas Jenseitiges ist für sie nicht zwingend. Wer Spiritualität darauf reduziere, laufe Gefahr, in eine jenseitige Hoffnung auf ein Wiedersehen abzudriften. «Das kann zu einem Realitätsverlust führen, und die Trauer erschweren.»
Auch Daniel Hell, langjähriger ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, betont: «Trauer ist vital, das ist Leben.» Dennoch komme es vor, dass Menschen nicht trauern könnten. «Wenn das Entsetzen über den Verlust oder die dadurch entstehende Leere so gross ist, dass es einen überwältigt, ist keine Verarbeitung möglich.» Das könne in eine depressive Entwicklung übergehen. «Körper und Seele werden wie ausgebremst, was zu einem Gefühl der Schwere und zu Bewegungsarmut führt.» Dann sei therapeutische Hilfe nötig.
Trauer und Freude gleichzeitig
Als Sarah Berger mit ihren Kindern Norberts Asche verstreute, war Thomas bereits Teil ihres Lebens. Schlechte Gefühle gegenüber Norbert hatte sie nicht, als sich mit Thomas allmählich eine Partnerschaft entwickelte. «Norbert wäre der Letzte, der gesagt hätte, ich solle keine neue Beziehung mehr eingehen.»
Auch ihre Schwiegermutter freute sich, und die Kinder hätten Thomas gut aufgenommen. «Norbert hat seinen Platz in meinem Herzen, und doch ist es nicht nur besetzt mit ihm.» Für die Kinder sei klar: «Ihr Papa ist Norbert. Diese Lücke füllt niemand.» Dennoch stehe ihnen mit Thomas eine männliche Bezugsperson zur Verfügung.
«Es gibt Momente, in denen ich Trauer und Freude gleichzeitig empfinde», sagt Berger. «Ich habe sehr intensiv getrauert», daher glaubt sie nicht, dass ihre neue Beziehung eine Flucht sei.
Sich den Neuanfang erlauben
Daniel Hell teilt ihre Ansicht. «Die Trauer verbindet einen mit der verstorbenen Person. Dadurch kann man die Leere, die entstanden ist, besser aushalten.» Wer diese Leere nicht aushalte, flüchte bisweilen in eine neue Beziehung. Eine minimale Dauer für die Trauer gebe es nicht. Auch spreche man heute nicht mehr von Trauerphasen, sagt Hell. «Es ist eher ein Hin und Her zwischen verschiedenen Gefühlszuständen.»
Seelsorgerin Claudia Graf kennt die Erfahrung, dass das Eheversprechen zu lebenslänglicher Treue Verwitwete daran hindern kann, einen neue Beziehung einzugehen. Trauern bedeute, «die Beziehung noch lebendig zu erhalten». In einem Trauerprozess gehe es letztlich darum, «der verstorbenen Person einen neuen Platz im eigenen Leben zu geben».
Sarah Berger wünscht denn auch anderen verwitweten Menschen, dass sie sich erlauben, «sich wieder voll dem Leben zuzuwenden. Eine neue Liebe darf Teil davon sein. Wenn ich gestorben wäre, hätte ich mir auch gewünscht, dass Norbert wieder jemanden an seiner Seite hätte.»
Hinweis: Mehr zur Geschichte von Sarah Berger im Podcast «Das letzte Stündchen».
Vortragsreihe: Trauer – Abschied – Neuorientierung
Vorträge aus medizinischer, psychologischer, seelsorgerlicher und politischer Sicht. Mit Claudia Graf, Daniel Hell, Hansjörg Znoj, Thierry Carrel und Moritz Leuenberger.
Jeweils Di, 4. März bis 1. April, 19.30 bis 21.00, Kirchgemeinde Petrus, Bern.
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