footprints in the snow

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Trauerstarre

14.11.2024

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

 

Als Spitalseelsorgerin begleite ich immer wieder Menschen, die unerwartet eine geliebte Person verloren haben und darauf in eine Art Schockstarre fallen. In so einer Akutsituation geht es erstmal darum, das schlimme Ereignis zu realisieren und wieder handlungsfähig zu werden. Und wenn der Alltag wieder einkehrt? Wie kann ein Mensch ins Leben zurückfinden, wenn ihm das Liebste genommen wurde?

Dieser Frage geht Daniela Krien in ihrem neusten Buch «Mein drittes Leben» in wunderbar einfühlsamer Weise nach. Linda und ihr Ehemann verlieren ihr einziges, 17-jähriges Kind durch einen tragischen Verkehrsunfall. Danach ist nichts mehr wie vorher. In der ersten Zeit funktioniert das Ehepaar irgendwie. Dann, als es nichts mehr zu tun gibt, trifft sie die Trauer mit voller Wucht. «Die anderen lebten weiter, unsere Zeit stand still», schreibt Krien.

In der Folgezeit entfernt sich das Elternpaar zunehmend voneinander. Ihre Art und Weise mit dem Verlust der Tochter umzugehen, ist zu verschieden. Sie haben die gemeinsame Blickrichtung verloren. Linda klammert am Vergangenen und findet in ihrer unermesslichen Trauer nicht mehr ins Leben zurück. Sie zieht sich von allen und allem zurück. Aussagen wie «Du musst jetzt nach vorne schauen» verstärken Lindas Rückzug. Sie erstarrt in ihrer Trauer und ist wie lebendig begraben.

Kaum auszuhalten langsam, schafft es Linda aus ihrer Lähmung und dem Niemandsland zwischen Leben und Tod heraus. Was ihr hilft, ist das körperliche Wirken und Leben in der Natur. Wichtig ist das Dasein einer Bekannten, welche – selbst vom Schicksal gezeichnet – keine Angst vor Lindas Trauer hat. Diese stellt Fragen, die sonst niemand zu fragen wagt. Zudem muss sich Linda mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, damit sie wieder Zukunft für sich denken kann. Am Ende des Buches kann Linda besser mit ihren aufkommenden Trauerwellen umgehen und sagen: «Es gibt gute Tage.»

Trauern ist Arbeit, gleichzeitig geschieht Trauern in einem nicht gänzlich beeinflussbaren Prozess, der genügend Zeit braucht und individuell völlig verschieden ist. Die Lektüre dieses berührenden Buches ist wertvoll, nicht nur für diejenigen, welche trauernde Menschen begleiten.

Monika Mandt, Seelsorgerin im Inselspital

Daniela Krien: Mein drittes Leben. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2024. 294 Seiten.