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Try walking in my shoes

22.02.2024

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Am Wochenende mussten wir in der Familie lachen. Vor uns lag ein Berg Wäsche zum Zusammenlegen. Die Wäsche sortierten wir anschliessend auf verschiedene Stapel, und ich erklärte meinem Mann, dass das weisse und das hellgrüne Shirt von mir auf den Haufen «kommt nach Bern» gehören würde. Er fragte ganz erstaunt: «Welches grüne Shirt?» «Ja, dasjenige, das Du gerade in den Händen hältst», gab ich ein wenig irritiert zur Antwort. «Das ist doch hellblau», meinte er. «Nein, hellgrün», entgegnete ich. Und unsere T ochter, die daneben sass, sagte: «Für  mich ist das auch hellblau.»

Immer wieder staune ich, wie unterschiedlich wir Menschen denken, fühlen und sehen. Auch unser Erleben ist unterschiedlich. Haben Sie schon einmal ein Geschwister oder ihre Eltern danach gefragt, wie sie eine bestimmte Situation in der Vergangenheit in Erinnerung haben?

Manche Situationen prägen uns zutiefst, und andere, die auch dabei waren, erlebten dasselbe als belanglos oder zumindest nicht so wichtig. Das kann enttäuschend sein, heisst aber nicht, dass meine Sicht oder meine Erinnerung falsch ist. Es ist einfach mein subjektives Erleben. Aber indem wir anderen zuhören, können wir unsere eigene Wahrnehmung immer wieder neu einordnen und manchmal auch relativieren. Wir dürfen sie aber auch als unsere Sicht der Dinge verteidigen.

Wenn es mir gelingt, anderen einfach zuzuhören und ihre Erfahrungen stehen zu lassen, kann das nicht nur meinen Horizont erweitern, sondern ich zeige auch Wertschätzung für ihr Erleben.

Einiges, das ich so höre, gerade auch als Seelsorgerin, liegt ausserhalb meines Vorstellungsrahmens. Aber erst, wenn ich ihr Erleben stehen lasse, kann ich nachfragen: Was brauchst Du, was ist Dir wichtig? Oder: Wie kann ich Dich unterstützen?

Die Band «Depeche Mode» singt in einem Lied: Try walking in my shoes. Bevor du irgendwelche Schlüsse ziehst, versuch, in meinen Schuhen zu gehen.

Übrigens: Ich bin nach wie vor überzeugt, dass mein Shirt hellgrün ist und nicht hellblau …

Martina Wiederkehr-Steffen, Seelsorgerin am Inselspital

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